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DESCENDENTS – 9th & Walnut

~ 2021 (Epitaph Records) – Stil: Punk ~


´9th & Walnut´. Bitte, was? Ganz einfach. Das ist die Straßenkreuzung in Long Beach, Südkalifornien, an der die DESCENDENTS ihre frühen Jahre erlebten. Ab 1977 versammelte sich das Trio im Schulalter um Gitarrist Frank Navetta, Bassist Tony Lombardo und Schlagzeuger Bill Stevenson in der Garage des Hauses von Franks Schwester, um mehr oder weniger die ersten Songs in der damals noch sehr jungen LA-Punk-Gemeinde zu schreiben. 1980 stieß Sänger Milo Aukerman hinzu. Nach der Veröffentlichung der ´Fat EP´ 1981 folgte im darauffolgenden Jahr das szenedefinierende ´Milo Goes To College´. So viel ist bekannt. Gemeinhin unbekannt sind die Songs, die die Gruppe schrieb, bevor Milo im Boot war.

Bis jetzt. Aufgenommen schon 2002 (ergänzt durch vier frische Tracks von 2020, als Milo den Gesang generell aufnahm), ist ´9th & Walnut´ das Vehikel, frühe Versuche zu hören, die mittlerweile mehr als 40 Jahre alt sind.

Dieses Porträt der Künstler als junge Männer zu veröffentlichen, zu einem Zeitpunkt, an dem die DESCENDENTS stattlich ergraute ältere Männer sind, ist ein, äh ja, seltsames Unterfangen. Wichtiger Aspekt nebst Zusatzrendite für die verbliebenen Mitglieder ist, dass klassische Debüt-Veröffentlichungen von gleichalten LA-Punks – etwa ´Group Sex´ von den CIRCLE JERKS und BAD RELIGION mit ´How Could Hell Be Any Worse?´ – sozusagen in Echtzeit veröffentlicht wurden. Jetzt rücken die DESCENDENTS das historische Bild zurecht, wollen wissen lassen: „Wir waren auch schon da!“

Ist es also gut, dieses Zurechtrücken? Es ist in Ordnung. Es ist nicht schlecht. Im Gegensatz zu wirklich wegweisenden und im Verlauf der Jahre weiter gut gereiften Debüt-LA-Punkrock-Alben – ´Los Angeles´ von X oder ´The Record´ von FEAR – klingt ´9th & Walnut´, als wäre es von Jugendlichen geschrieben worden, die kaum eine Ahnung hatten, was sie taten.

War ja auch so. Parallel zur Infantilität der Band hatte der südkalifornische Punkrock in den 1970ern noch keinen definierbaren Sound entwickelt. Die DESCENDENTS hatten keine Vorbilder um’s Eck, sie agierten intuitiv nach eigenem Bauplan; eher Anführer als Mitläufer. Kleiner Seitenhieb: Auch die frühen DOORS waren kaum Meister ihres Fachs. Und BLACK FLAG, wenngleich eher Hardcore, waren nur ein paar Jahre zuvor auch deutlich mutiger respektive wegweisender.

Mit Vollgas durchs Mittelmaß

Auf einer Veröffentlichung wie ´9th & Walnut´, auf der nur zwei von 18 Songs die Zwei-Minuten-Grenze durchbrechen, passiert in Sachen Harmonie und Abwechslung nicht viel. Muss auch nicht. Punk- ist nicht Krautrock. Das Ergebnis macht Spaß – unter Berücksichtigung des Kontextes und der Fähigkeiten. Eine Coverversion von THE DAVE CLARK FIVE, ´Glad All Over´, passt auch rein. Ansonsten ist ´9th & Walnut´ eine flotte Platte voller Enthusiasmus und ausreichend hinlänglicher Leistungen. Nie schlecht, manchmal sogar ziemlich gut – aber nicht besonders oder essentiell.

Wie wir wissen: Die wirklich großartige Arbeit kam später – beziehungsweise wurde früher veröffentlicht.

(7 Punkte)