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LANTLÔS – Wildhund

~ 2021 (Prophecy Productions) – Stil: Shoegaze / Post Rock ~


Denkt man LANTLÔS, denkt man sofort auch ALCEST. Nicht nur wegen der Herkunft aus dem Black Metal, den vielen personellen Beziehungen zwischen beiden Bands und natürlich vor allem Neiges Beteiligung an LANTLÔS zu Zeiten von ´.neon´ und ´Agape´, sondern vor allem wegen der Stimmung, die bei beiden Bands stets so unvergleichlich schwebend, fragil, traumgleich, ja wie aus einer anderen Welt ist. Hinzu kommt die elektronisch verstärkte Mehrstimmigkeit in den schier unendlich vielen Lagen aus flirrenden Gitarren, Gesang und Rhythmusgruppe, die das aufbauen, was gerne „Soundscapes“ genannt wird, weite Klanglandschaften, Gefühl(t) ohne Anfang oder Ende. Ich hatte das Glück, die beiden befreundeten Bands 2015 zusammen auf Tour zu sehen, und weiß, das ist pure Therapie für von der Moderne geschundene Seelen.

Die Parallelen haben nämlich noch einen anderen Hintergrund. LANTLÔS’ Bandkopf Markus Siegenhort aka Herbst und Neige haben sich gefunden, wortlos verstanden und künstlerisch gegenseitig befruchtet, da sie ein gemeinsames Schicksal teilen: sie litten beide an der Persönlichkeitsstörung-Derealisation, einem Zustand, in dem man die Umwelt oder auch sich selbst als fremd und unwirklich wahrnimmt, den Bezug zur Realität teilweise verliert und sich oft isoliert, wie durch eine Glasglocke vom Leben abgetrennt fühlt. Mit diesem Hintergrund jemand anderen zu finden, dem es ähnlich geht, ist ein Geschenk; und die daraus entstehende Kunst eröffnet wiederum den Hörern Einblicke hinter den Schleier, der bewusst und unbewusst trennt. LANTLÔS sind traumwandelnde Meister des Balancierens auf dieser Grenze, und setzen mal einen Schritt mehr in die eine oder die andere Richtung.

´Wildhund´ nun trägt das Lebensbejahende, Ungestüme schon im Namen. War ´Melting Sun´ vor sieben Jahren die Wende weg von den düsteren BM-Einflüssen hin zu mehr Licht und Freude, spirituell ausgewogen, aber trotzdem noch tastend, zögerlich, manchmal fast ängstlich und eher introspektiv beharrend, so greift Siegenhort diesmal mit beiden Händen in die poppigen Vollen. Es wird bunt, spielerisch, lustvoll und, ja, unbeschwert fröhlich, schon die Songtitel sprechen davon: ´Magnolia´ besingt voller Schwung Herbsts liebste Jahreszeit, den ganz frühen Frühling, ´Amber´ startet mit „Buttermilk sky“-Lyrics, ´Lake Fantasy´ kommt mit einem quirlig-pinken Video daher, ´Home´ kombiniert kindliche Naivität mit progressiver Rhythmik und ´Cocoon Tree House´ feiert die Freuden des Rückzugs in die Natur.
´Dream Machine´ ist dann der Song, den man sich auch auf ´Shelter´, dem aus der Reihe gefallenen, reinen Shoegaze ALCEST-Album, vorstellen könnte – eine Hommage an den Freund und Wegbegleiter, voll kindlicher Träume, angefüllt mit strahlender Schönheit in den mehrstimmigen Gesangslinien und Winterhalterhaften komplexen Drumpatterns; Felix Wylezik hat generell ganz schön zugelegt an Technik und Ausdruck.

 

 

Und hier hören wir nun endlich mal auf mit den ständigen Vergleichen, denn was LANTLÔS auszeichnet ist ja gerade ihre Vielseitigkeit, mit der sie alle möglichen Einflüsse aufsaugen und integrieren, und vor allem ihr sich ständig neu erfinden und weiterentwickeln; noch nie glich eine Platte ihrer Vorgängerin, der typisch verschwenderische Reverb-, Vocoder- und vor allem der exzessive Synthesizereinsatz spielten schon immer eine große Rolle in Siegenhorts Kompositionen. Bei ´Wildhund´ mag der Schritt vielleicht besonders groß erscheinen, verwundern tut er jedoch nicht, und so weit ist Dream Pop vom Shoegaze nun auch nicht entfernt. Und falls jetzt jemand Befürchtungen hat – es ist immer noch Rock und auch heavy, noch etwas komplexer und progressiver als gewohnt, oft im Midtempo, es gibt aber auch Ambientstücke und Tracks, die mehr knallen und auf der anderen, etwas schattigeren Seite stehen, ´Vertigo´ beispielsweise. Das Interludium ´Cloud Inhaler´ erinnert unheilschwanger an die mittlerweile jedermann bekannten Geräusche eines Beatmungsgerätes, der ´Dog In The Wild´ kämpft sich sogar einem MASTODON gleich stampfend durchs dichte Unterholz, um kurz darauf von DEVIN TOWNSEND Tipps für die Suche Wasser zu erhalten. Noch nie kam Herbsts beeindruckende, enorm wandlungsfähige, klare und kräftige Stimme so herausragend zur Geltung wie heute, und nicht nur sie klingt ganz befreit danach, dass jemand endlich genau das tut und ausdrücken kann, was tief in ihm schon immer schlummerte. Und sich genau darüber unbändig freut.

Sicher, für manch alten Fan dürfte diese überschwänglich positive Platte folgerichtig einfach too much sein. Das sagt auch Siegenhort selbst, es sei vielleicht für manche zuviel des Guten: „Die Themen drehen sich um Freiheit, Kirschblüten, Sommer, einen sonnigen Kindergeburtstag, Kaugummi, Minzgeruch, Süße, die Farben Rosa und Babyblau, Kindheitserinnerungen, eine Zitrone in einem Glas Wasser, Glitzer, Nostalgie, Kitsch und vieles mehr bis zu dem Punkt, an dem es ‚zu viel‘ wird. So ‚zu viel‘, dass es künstlich, fremd und verwirrend schmeckt. Ästhetik auf Overdrive, hypnotisch, aber kraftvoll. Das ist ‚Hardcore‘-Softness, wenn das einen Sinn ergibt.“. Für mich tut es das, und wer sagt eigentlich, dass nicht auch ein grumpy Black Metal-Fan Freude am Kitsch empfinden kann, zumindest gelegentlich? Auf jeden Fall kann sogar er mit dieser Sommerscheibe wunderbar bei 36° Grad im Schatten mit einem Drink seiner Wahl von nordischem Herbst träumen, in abkühlenden Melodien schwelgen oder sogar ein glitzerndes Eisbad in LANTLÔS’schen Klängen nehmen, und dafür gibt es

(8 kaugummipinke Punkte)

 

 

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(VÖ: 30.07.2021)