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HELGE SCHNEIDER – Die Reaktion – The Last Jazz Vol. II

~ 2021 (Railroad Tracks) – Stil: Jazz / Blues / Avantgarde / Klassik ~


Er ist Komiker, Schriftsteller, Schauspieler und Multiinstrumentalist, aber vor allem ist er Jazzmusiker. Er verdient sich 1977 seinen Lebensunterhalt mit Live-Auftritten bei Peter Burschs BRÖSELMASCHINE und wird fünfzehn Jahre später mit ´Katzeklo´ und ´Es gibt Reis, Baby´ berühmt. Er ist wieder da: Helge Schneider. Dabei war er gar nicht weg.

65-jährig veröffentlicht er in diesem wunderlichen Jahr 2020 seine Studioscheibe ´Mama´ und ein Jahr später ist er schon wieder da. Denn es begibt sich am 20. Dezember 2020 um 20 Uhr 20 ein grinsendes Männchen mit Plateauschuhen in einen Aufnahmebunker, um Schallwellen aufzuzeichnen. Alleine nimmt er wieder alles auf, der Multibegabte, so wie er es sehr oft und auch zuletzt durchexerziert hat. Natürlich ist er jahrelang nicht nur Solo-Entertainer, sondern spielt mit seiner HARDCORE-Begleiterscheinung, ruft irgendwann sogar die Rocker FIREFUCKERS zusammen.

´Die Reaktion – The Last Jazz Vol. II´ als neuer Werktitel ist eine Reaktion auf die Hinwendung zur Vergangenheit in der Gegenwart. Ein flüchtiger Blick auf 1975, als das HELGE SCHNEIDER TRIO mit Kai Kanthak und Mash Temme ´Die Gewinner des IKEA-Jazz-Festivals´ veröffentlichen; und eine Reaktion, ein möglicher Nachklang zu ´The Last Jazz´, seinem zweiten Werk. Dieses Studioalbum aus 1987 geht er ebenfalls ganz solistisch an, nur Dieter Stein steht einmal am Kontrabass, so wie Sohn Charlie Schneider in den Schulferien Zeit findet, diesmal innerhalb eines Liedes Schlagzeug zu spielen.

Vielleicht ist es aber auch die Reaktion auf die Reaktion des Papstes, keine Reaktion zu zeigen. Helge setzt sich an ´Das alte Klavier´ und eröffnet die 80 Minuten mit Barmusik. Mit der Akustikgitarre schildert Helge hingegen ein ganz mächtiges Problem, denn „´Der Pabst´ ist auch nur ein Mensch, er kann gar nicht in die Eisdiele gehen, ohne erkannt zu werden.“ Bereits dieser Song ist aufgrund seines Wortwitzes einer der Höhepunkte. Aber auch der ´Mann ohne Gesicht´ ist als weiteres Lied mit Gesang in dieser Hinsicht exquisit, holt sich doch der Mann sein Gesicht zweifelsohne aus einem Päckchen in einem Schließfach. Tatsächlich ist ´Die Reaktion´ eine Reaktion mit elektrifizierter Gitarre, trotz des Klaviers, das ´Spinett (am Strand)´ dagegen eine Situationsbeschreibung von Öl und Strand, Strand und Öl sowie sehr hochgezogenen Badehosen. So genießt man an der Französischen Riviera ´Les Baguettes´.

Wir sitzen also an der Bar (´Railroadblues´) und lassen die Hammond erklingen (´Silver Hammond Dreams´). Es gibt Klavier, es gibt Rumblaserei (´Astral Houdini´) und es wird immer lauter im ´Großstadtgemecker´ oder sensibler mit den ´Bluebird Flying In The Sky´ des Jazz. Helge will wiehern (´Mord ist ihr Hobby (das singende Pferd)´), aber besser gesagt jault und pfeift er, und präsentiert sogar erneut ein kleines Hörspiel, das Durchbrechen der Schallmauer mit ´Nordic Walking´, sowie die finale Saloon-Musik zu ´Der Stummfilm´.

Zu etwas Husten mit Auswurf in ´Mondscheinelise´ kommt auch die ´Mondschein-Sonate´ und ´Für Elise´ von Ludwig Van Beethoven im neuen Gewand. Ganz in seinem Element ist Helge bei ´I’m Beginning To See The Light´ von Duke Ellington/Johnny Hodges/Harry James aus 1944 sowie dem ´The Tadd Walk´ von Tadd Walk. Restlos in seinem Element ist er bei klassischen, von Johann Sebastian Bach und Georg Friedrich Händel entlehnten Stücken wie ´Helge Schneider spielt verschollene Werke von Bach und Händel´ und ´Variationen auf Händels verschollene Aufzeichnungen aus Halle an der Saale´.

Er ist und bleibt ein Grenzgänger und ein kleines Genie: Helge Schneider.

(8 Punkte)

https://www.facebook.com/helgeschneider


(VÖ: 16.07.2021)