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TERRA ODIUM – Ne Plus Ultra

~ 2021 (Frontiers Music s.r.l.) – Stil: Progressive Metal ~


 

Irre und einzigartig atmosphärisch… dachte ich, als ich das erste Mal ´The Spectre Within´ von FATES WARNING hörte. Irre und absolut überirdisch… dachte ich, als ich das erste Mal die ´Social Grace´ von PSYCHOTIC WALTZ hörte. Irre, diese Rückkehr zu der vertrackteren Vergangenheit der Zweiteren mit den vereinten Gesangslinien unseres Buddy und des kultig verehrten, damaligen Sängers der Ersteren – dem unvergleichlichen John… dachte ich so bei mir, als ich die ersten beiden Vorabsongs ´Crawling´ und ´The Clouded Morning´ zum ersten Mal hörte.

Dass ich sowas noch einmal erleben darf. Doch es ist 2021 Realität geworden und über den SPIRAL ARCHITECT von 2000 verlieren wir keine Worte mehr, da er sich in jeder einschlägigen Sammlung befinden sollte und im Vergleich hierzu lediglich eine Aufwärmübung für frickelfreudige Wachturmwächter war. Dieses Jahr sind tiefe Emotionen statt purer Akrobatik angesagt, bei denen der grandiose Gesang von Øyvind Hægeland erst richtig zur Geltung kommt.

Doch hält das komplette Album, was zwei Songs versprochen haben, die nun als Eröffnung und Finale das Gesamtwerk umrahmen? Nun, ´The Road Not Taken´ ist nach dem fulminanten Openingwal(t)zer ´Crawling´ nahezu ein passender Titel, denn wer „nur“ weiter auf der Straße alter Klassiker mitfahren will, hat die Abfahrt verpasst, denn bereits jetzt bauen TERRA ODIUM sich ihre eigene Identität mit unerwartet-unnervigem „Ooh-ooh-oh-ooh“ Singalong und massivem Sinfonikeinsatz im Hintergrund zur hochklassigen Formel.

Auch im ´Winter´ stößt der Weidmann kräftig ins monumentale Horn (ja, das Blechinstrument) und beschreitet ruhige, sehr gefühlvolle Wege mit wunderschönen Basslinien, die an nicht weniger als jenen klassisch besungenen „Roads To Madness“ vorbeiführen und in die ureigene, psychotische SYMPHONY X mit wahnwitzigen Soli münden. So fühlt es sich an, wenn mein Tag und Traum sich vereinen.

´The Shadow Lung´ versetzt nicht nur den Kettenraucher in nervöse Zuckungen, nein, hier lässt feinstes Geshredde die Mathematiker erregt von ihren Tabellen aufschauen, bis der Melodiefraktion ihre verdienten, epischen Highlights kredenzt werden, denn TERRA ODIUM vernachlässigen niemals die großen Emotionen zugunsten ihrer handwerklichen Fähigkeiten, wie so viele mutmaßliche Thronanwärter des heiligen Progmetal im Laufe der Jahre oder auch übermotivierte Hoffnungsträger aus den unsterblichen Landen.

Danach groovt sich ´The Thorn´ mächtig im Stil der letzten PSYCHOTIC WALTZ in eure Gehörgänge und der absolute Ausnahmegesang übernimmt die Führungsrolle, während sich abermals die Stärken des Songwritings in mystischen, getragenen Gefilden präsentieren und sich stetig zu musikalischen Eruptionen und emotionalen Höhepunkten über knapp 12 Minuten steigern. Nehmt’s mir nicht übel, aber genau diese Dynamik verschiedener Tempi und Stimmungen wie hier innerhalb nur eines Songs ist mir bei aller Klasse und Liebe auf der kompletten letzten PSYCHOTIC WALTZ zu kurz gekommen.

Was dann kommt, ist schon wieder kaum zu beschreiben. Schnappatmung. Tränen. Glücksgefühle. ´It Was Not Death´, nein – es war wieder diese wunderschön-geheimnisvolle, akustische Atmosphäre, die ihre Erfüllung direkt nach der Pfeiff-Einlage in einem Ausbruch an Leidenschaft findet und mich sprachlos zurücklässt mit dem schon bekannten Knaller ´The Clouded Morning´, welcher für mich persönlich eine Huldigung der Sangeskunst meines ewigen Hall-Of-Fame-Guardian John Arch (ex- FATES WARNING) darstellt, was bisher lediglich WHILE HEAVEN WEPT mit ´To Wander The Void´ gelang. Ergänzend dazu flotte Parts mit Keyboard- und Gitarrensoli, die ein maßloses Verlangen nach einem neuen KING DIAMOND Album hervorrufen.

Majestätische Meisterwerke, diese Lieder. Allesamt.

Hier ist es also, das Album, welches bei mir 2021 Tränen der Nostalgie als auch Euphorieschübe aufgrund seiner überragenden Konkurrenzlosigkeit und überirdischer progmetallischer Harmonie verursacht. Sagenhaft. Ich bin nun musikalisch durchgeimpft, ziehe um nach TERRA ODIUM und möchte ein „K“ kaufen, wie in „Klassiker“.

(10 Punkte)

Less Leßmeister

 

 

 

Urplötzlich verbreitet sich der Name einer neuen Wundertruppe wie ein Lauffeuer und niemand weiß, wo diese in grundsätzlich so redseligen Zeiten auf einmal erwachsen ist. Bevor überhaupt das Werk in seiner Gänze wochenlang durch die Gehörgänge gepustet wird, ist in den sozialen Medien bereits vom Album des Jahres die Rede.

Auf den ersten Blick müssen daher erst deren Gründer und Schöpfer enthüllt werden. Sensationeller Weise bestehen TERRA ODIUM aus Øyvind Hægeland und Asgeir Mickelson, beide einst in den Diensten der legendären Norweger SPIRAL ARCHITECT. Deren Gitarren- und Rhythmusakrobatik war in ihrem, bis dato einzigen Werk ´A Sceptic’s Universe´ anno 2000 ein echter Genuss, und bewegte viele Geister und Gemüter.

Eigentlich hätten alle Musikhörer, die mit den Namen PSYCHOTIC WALTZ, FATES WARNING, WATCHTOWER, SIEGES EVEN, MEKONG DELTA, SPASTIK INK und natürlich DEATH, ATHEIST, CYNIC und SADUS vertraut sind, auf SPIRAL ARCHITECT fliegen müssen, obwohl es selbstverständlich hochkomplexe Musik war und ist. „Thinking Man’s Metal“ und perfekte Musik scheinen jedoch nicht für den Massengeschmack geeignet zu sein, da es bei vielen Menschen an der nötigen Hingabe zu den Kompositionen hapert und der fokussierte Blick auf die Lieder an sich fehlt.

TERRA ODIUM werden dagegen im Erhaschen von Aufmerksamkeit hoffentlich eine Ausnahme bilden. Denn Schlagzeuger Asgeir Mickelson, der ebenso wie Øyvind Hægeland einst auch bei LUNARIS und SCARIOT tätig war, kennt der Kenner nun schon von VEIL OF SECRETS sowie von BORKNAGAR, IHSAHN, ICS VORTEX oder VINTERSORG. Sänger/Gitarrist Øyvind Hægeland sang zudem live bei ARCTURUS, als Session-Musiker für VIRUS oder MAYHEM sowie auf dem Meisterwerk ´Entrance´ der kultigen MANITOU. Diese standen 1995 noch für einen klassischen Sound, der genauso wie später SPIRAL ARCHITECT aus dem Vollen von PSYCHOTIC WALTZ, WATCHTOWER, SIEGES EVEN und CYNIC schöpfte, aber ebenfalls in der Nachfolge zu SLAUTER XSTROYES, LETHAL und QUEENSRYCHE stand. In Anbetracht der langen Stille bei MANITOU musste man eigentlich annehmen, nie wieder etwas von deren kongenialen Gitarrenduo Fredriksen/Schulze zu hören. Doch Gitarrist Bollie Fredriksen, der in den letzten Jahrzehnten sein eigenes Studio betrieben hat, tritt endlich wieder in die Öffentlichkeit und zeigt sich sogar als Hauptsongwriter bei TERRA ODIUM.

Als Bassist kam für die Herrschaften kein Geringerer als Steve DiGiorgio in Frage, der als Session-Musiker auf unzähligen Alben vertreten und von den Gruppen SADUS, DEATH, TESTAMENT und CONTROL DENIED weltbekannt ist. Für die Orchestrierung und die Synthesizer-Klänge suchten und fanden sie Jon Phipps, der zahlreiche Formationen, wie etwa MOONSPELL, ANGRA und AMORPHIS, als klassischer Komponist und Sound-Ästhet beglückt hat.

Bei solch einer Vergangenheit aller beteiligten Musiker erwartet der Hörer natürlich, selbst auf den zweiten Blick hin, ein gewaltiges Unterfangen wie von MANITOU und SPIRAL ARCHITECT, dementsprechend einmalige Musik wie sie zuletzt in den Gaben der Italiener MEMENTO WALTZ oder der Norweger TWISTED INTO FORM entgegenzunehmen war.

Geboten wird natürlicherweise ein vertrackter Progressive Metal mit atypischen Strukturen. Im Mittelpunkt steht bei all dem gewohnt starken Rhythmus-Gewitter der Gesang von Øyvind Hægeland. Ein steter und nicht zu überhörender Antrieb ist zudem, wie einst bei SPIRAL ARCHITECT, zweifelsohne der Bass, von den virtuosen Fingern eines Steve DiGiorgio in den Vordergrund gerückt. Überraschenderweise rücken die Sounds aus den Händen von Jon Phipps die Musik aus der klassischen Prog Metal-Ecke in die sinfonisch umhüllten Welten. Es ist kein klassischer Keyboard-Einsatz wie er im Prog Rock und Prog Metal geliebt wird, sondern die sinfonisch-metallische Variante.

Klappe zu. Klappe auf. Der Höllenschlund öffnet sich: ´Ne Plus Ultra´. Die orchestrale und cineastische Konzeption bleibt von Beginn an nicht im Hintergrund verborgen und blickt im Opener ´Crawling´ immer wieder in das erschrockene Auge des Hörers. Die Komposition selbst brandet durch einen rhythmisch aufgestachelten Prog Metal, der immer wieder Platz für sinfonische Fanfaren und Solo-Vorführungen bietet. Selbst Øyvind Hægeland kann es sich hin und wieder nicht verkneifen, zu diesen Melodien wortlos mitzusingen, allein bei den solistischen Darbietungen vermeidet er es in der Regel. Zeitweise bleibt er einmal mehr Buddy Lackey von PSYCHOTIC WALTZ auf der Spur: „We come crawling, crawling“. Eine Schnittmenge aus PSYCHOTIC WALTZ, BEYOND TWILIGHT und SPIRAL ARCHITECT wird in diesen Minuten mühelos mit Sinfonik angereichert: „We come with plague. We slay our way. When your guard is down. In our words you’ll drown.“

Heftig pumpend startet ´The Road Not Taken´ auf den Fersen von WATCHTOWER, trotzdem ändern der sinfonische Einfluss und die „Ohohoho“-Gesänge das Soundbild umgehend ab. Mit vielen Streichern entwickelt sich die weiterhin rhythmisch hektische Komposition zu einer epischen Nummer mit heroischem Gesang und schillerndem Gitarren-Solo. Kommt der atmosphärische Song ´Winter´ zur Ruhe, steigt der Gesang ein und der Bass stellt sich abermals deutlich in den Vordergrund. Allerdings gerät das Lied doch noch in Wallung: „Content and ease repair.“ Progressiv knatternd stolziert ´The Shadow Lung´ durchs Sound-Dickicht und Øyvind Hægeland nähert sich kurzfristig John Arch an, ehe es zum finalen Ausklang sinfonisch aufwallt. Weit aus näher ist Øyvind Hægeland im fast zwölfminütigen ´The Thorn´ auf den jüngsten Spuren des ehemaligen FATES WARNING-Sängers und gönnt sich dazu einige hohe Stimmlagen. Die Komposition selbst könnte gleichfalls dem Spätwerk oder dem von REDEMPTION entstammen.

Eine spannende und akustisch zurückhaltende Stimmung versprüht das balladeske ´It Was Not Death´. E-Gitarren-Solo zu Beginn, Streicherarrangements für die dunkle Aura und ein kurzes Pfeifen anstatt eines weiteren Solos tragen das gewisse Extra hinein. Bei der letzten Komposition ´The Clouded Morning´ ist hingegen wieder eine gesangliche Annäherung an John Arch auszumachen, gleichwohl aufgebauschter im einzelnen Tonfall. Das Lied schreitet als Schlussakt derart schlürfend durch das Bild, als wolle es in skandinavischer Manier beweisen, dass der namensbestimmende Song ´Spiral Architect´ aus der Feder von BLACK SABBATH stammt. Fade-out.

Bei aller Euphorie noch ein letztes: Bitte in Anbetracht der grundsätzlichen Genialität von ´Ne Plus Ultra´ ausnahmsweise die Punktzahl übergehen, da sich das Werk über alle menschlichen Bewertungsmaßstäbe hinwegsetzt. Selbst wenn es nicht in der klassischen Tradition von MANITOU und SPIRAL ARCHITECT sowie MEMENTO WALTZ oder TWISTED INTO FORM steht. Denn die Band trägt den Namen: TERRA ODIUM.

(10 Punkte)

Michael Haifl