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POOR GENETIC MATERIAL – Spring Tidings – 15th Anniversary Edition

~ 2006/2021 – (Quixote Music) – Stil: Prog Rock ~


Jeder hat sie doch, die Platte, den Musiker, die Band, gern auch im Plural, die ihm besonders am Herzen liegen. Manchmal, werden durch die Musik Erinnerungen geweckt. Oder da sind die Musiker, die man treffen durfte, die bei solch Begegnungen beeindruckt haben. Bei mir gehören SAVATAGE und NAVARONE zu diesen Herzensbands, aber auch Bands aus der Region, die seit 20 Jahren mir Heimat ist, HAMMER KING, OLD MOTHER HELL oder ALIAS EYE. Letztere waren es dann auch, die mein Interesse an POOR GENETIC MATERIAL weckten. Schließlich war (und ist wieder) Sänger Philip Griffiths eine Zeit bei beiden Acts aktiv.

2006, als ´Spring Tidings´ ursprünglich erschien, hatte ich POOR GENETIC MATERIAL noch nicht auf dem Zettel. Dabei war es zu diesem Zeitpunkt schon Album Nummer 5. Erst später, genau 2011, mit der Doppel-CD ´Island Noises´, habe ich diese Band tatsächlich für mich entdeckt. Nachdem ´A Day In June´ die Vertonung des Romans „Ulysses“, nicht so recht zu zünden vermochte, habe ich dessen Nachfolger ´Absence´ zu meiner Schande ausgelassen. Dafür dufte ich dann 2019 aber das letzte Werk ´Here Now´ auf diesen Seiten abfeiern. Damit näherten wir uns wieder an, gipfelnd in einem Interview und einem stimmungsvollen Konzert des Nebenprojekts COARBEGH des Tastenhexers Philipp Jaehne und der Flötistin Pia Darmstädter.

Das nun neu zugängliche Werk ´Spring Tidings´ war für PGM im Erscheinungsjahr ein gewisser Durchbruch in der Prog-Szene. Leider schafften es die (Kur)-Pfälzer nicht, diesen Status live zu verfestigen. Heute, 15 Jahre später, ist es Zeit, dieses Album wieder und neu zugänglich zu machen. Erstmals gibt es nun auch eine Ausgabe für Vinyl-Freaks. Soviel gleich hier, diese ist aus Platzgründen zwei Stücke kürzer. Die Reihenfolge ist auf das Format leicht variiert, die CD liegt der Scheibe aber bei. Da hat das bandeigene Label „Quixote Music“ ganze Arbeit geleistet.

Aufgefrischt sollte ursprünglich heißen neu gemischt und gemastert. Allerdings tat sich ein Problem auf. Die Keyboardspuren waren mit der heutigen Technik nicht mehr nutzbar. Also wurden diese neu eingespielt. Ob das der Grund ist, auf jeden Fall klingt diese Version zeitgemäß und frisch. Zum Glück haben PGM auch nicht den Fehler gemacht, sich am allgegenwärtigen Loudness-War zu beteiligen. Im Gegenteil, es ist gelungen, die Dynamik ihrer Musik zu bewahren.

Überhaupt, Dynamik, Prog Rock heißt ja nicht, den Hörer mit ellenlangen Instrumental-Frickel-Orgien zu überfahren. Guter progressiver Rock lebt doch eher von Dynamik, von Gefühl, von fesselnden Klängen und Laut-Leise. Diesen Weg haben POOR GENETIC MATERIAL von vornherein eingeschlagen, wie auch ´Spring Tidings´ beweist. Seitdem gab es auch kaum Veränderungen im Sound. Auch die Besetzung erwies sich als stabil. Pia Darmstädter, die hier schon auf ´Watercolours´ Flötentöne beiträgt, ist fest in der Band integriert worden. Am Mikro wurde Verstärkung geholt in Person von Martin Griffiths, dem Vater des Ursängers, die sich jetzt beide den Gesang teilen, was einiges hermacht. Einzig an den Drums gab es einen Wechsel, der hatte allerdings musikalisch kaum Auswirkungen.

Wer ein Kunstwerk ganz sehen will, muss oft drei Schritte zurück gehen, um mehr zu sehen als nur Details und Pinselstrich. So auch bei ´Spring Tidings´. Diese Scheibe hat schon viele kleine Details. Die erwähnte Flöte etwa, die leider noch viel zu kurz kommt. Rhythmen, die aus Lateinamerika zu stammen scheinen. Die Gitarre, mal singend wie bei SANTANA, mal schwebend in FLOYD’schen Gefilden. Zu finden sind auch einige von Philip Griffiths aggressivsten Gesangspassagen. Keyboardsounds sind zu hören, manche klingen wie alte GENESIS oder ELOY, dann wieder klingen sie wie Electronica, denen Philipp Jaehne mit COARBEGH ja auch gern huldigt.

Und dann sind da noch rätselhafte Textzeilen, etwa „our daily soap give us now“ in ´April´, da fällt schon, leider, ins Gewicht, die CD hat kein Booklet mit Lyrics bekommen. Das ist aber der einzige Punkt, den ich bemängeln würde. Der LP liegt ein Einleger mit Texten bei. Es wurde doch nicht alles falsch gemacht.

Hört man das ganze Album, hört man ein ausgereiftes, komplettes Werk, voller Gefühl und Emotion, fesselnd und begeisternd. Da kommen einem die 10 Minuten von ´La Ville Qui N’Existait Pas´ vor wie ein Augenblick. Ich frage mich, warum POOR GENETIC MATERIAL nie wirklich mehr Aufmerksamkeit hatten. Vielleicht kommt sie jetzt ja zurück.

Und, ehe ich es vergesse, noch ein Blick nach vorn in die Zukunft, Ihr gehört auf die Bühne.

(9,5 Punkte)

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