MeilensteineVergessene Juwelen

REINHARD MEY – Aus meinem Tagebuch

~ 1970 (Intercord) – Stil: Liedermacher ~


Einer der bekanntesten Liedermacher aus deutschen Landen hatte auch seine Herrenjahre, die Lehrjahre hatte Reinhard Mey jedoch längst hinter sich. Weiterhin auf der Höhe der Zeit musizierend, gehört er 1970 weder zur Kategorie der politischen noch zu der der humoristischen Liedermacher. Reinhard Mey konnte und kann alles sein, mit ironischen Kompositionskniffen als auch politischen Seitenhieben überraschen. Er war und ist ein Geschichtenerzähler.

Sein 1970er Werk ´Aus meinem Tagebuch´ ist zeitlos, es ist melancholisch, es ist lustig und tiefsinnig. Reinhard Mey hat es natürlich nicht nur allein mit Gitarre und Gesang aufgenommen, sondern im Verbund mit dem PEPE NAUMAN ENSEMBLE und den ROSY SINGERS.

 

Zu den Höhepunkten des Jahres 1970 gehörten neben dieser Veröffentlichung Reinhard Meys erstes Solokonzert im Wiener Konzerthaus sowie sein erstes Solokonzert in der Hochschule für Musik, Berlin.

 

 

Selbstverständlich stehen einige Liebeslieder im Mittelpunkt dieser Songkollektion. Äußerst laut und direkt besingt sie Reinhard Mey ´In meinem Garten´: „Was ich besaß, hab‘ ich ihr gegeben. An Vernunft und an Verstand, meine Seele ihr gegeben, mag’s der liebe Gott vergeben, weil ich sonst nichts zu schenken fand.“ Er idealisiert gar die Geliebte in ´Du meine Freundin´: „Du, … mein Bilderbuch ohne Anfang und Schluss.“ Oder erzählt in ´Das Lied von der Spieluhr´ wundervoll von dem Empfang einer solchen, die ihm vor vielen Jahren seine Liebste überreichte. Die Uhr funktioniert zwar längst mit mehr, doch die echte Liebe überdauert tatsächlich weiterhin all die Jahre.

Die schmerzhaften Seiten des Lebens werden natürlich wie gewohnt beleuchtet. Der ´Abgesang´ auf das Leben wähnt den dahinscheidenden Freund bereits beim Teufel im Fegefeuer, doch die Pointe kommt bekanntlich erst zum Schluss: „Alter Freund, mit Hölle ist’s nichts. Jede Wette, du kommst in ’n Himmel!“ Sogar ´Die Ballade vom Pfeifer´ („Warum ich pfiff, das weiß ich nicht, weiß nicht mal, wie ich heiß‘. Im Westen ist es niemals gut, wenn einer zu viel weiß! Ich weiß nur, wo mein Lied erklang, da wurden Bretter knapp, weil jeder Schreiner wusste, dass es Arbeit für ihn gab“), eine Western-Nachahmung mit pfeifendem und gesetzeslosem Hauptakteur, holt den Hörer wieder in die Gegenwart: Und unten brüllt der Regisseur „Verdammte Schlamperei, jetzt ist uns der Ast schon zum dritten Mal abgebrochen, der Film ist auch gerissen. Also Kinder, für heute ist Feierabend, die Leiche dreh’n wir morgen ab.“

Herausstechend und herausragend ist die traurige und dennoch musikalisch überragende Gastarbeiter-Ode ´Aus meinem Tagebuch´, die von den Träumen der Menschen und ihrem Heimweh, nach dem eigenen Land und der eigenen Familie in der Ferne erzählt. Außerdem springt der countryhafte ´Vertreterbesuch´ eines Globus-Verkäufers in Ohr und Verstand. Einerseits beschreibt Mey einen schlichten Vertreterbesuch, den er rasch wieder zur Tür begleitet: „Eines Tages kommt der Frieden, eines Tag’s siegt der Verstand. Doch bis an den Tag geh’n sicher viele Jahr‘ noch durchs Land. Schreiben Sie in ihr Notizbuch für das Jahr 2003: ‚Nicht vergessen zu besuchen, wegen Globus, zu Herrn Mey!'“ Doch andererseits besitzt diese Komposition selbstverständlich eine politische Botschaft, denn ohne all die Kriege, den Wahnsinn und den Irrsinn, gäbe es auf der ganzen Welt keinerlei Grenzverschiebungen.

Keine politische, eher eine ironische Spießbürgertum-Abrechnung ist die ´Trilogie auf Frau Pohl´. Reinhard Mey rechnet hierbei wahrhaftig mit seiner Vermieterin aus Studentenzeiten ab, die ihm eine heruntergekommene Bude vermietet hatte. Obwohl Reinhard Mey in Reinickendorf aufgewachsen ist, mag diese Episode aus späten Sechzigerjahren an „Die Vollidioten“, des deutschen Schriftstellers Eckhard Henscheid, und ihre alkoholseligen und müßiggängerischen Tage erinnern.

In der bereits begonnenen Tradition der großen Rausschmeißer beendet Reinhard Mey wehmütig und überwältigend sein drittes Werk mit ´Grüß dich, Gestern´ – über das Gestern, das Heute, das Leben und den Tod in vier prägnanten Strophen: „Grüß dich, Gestern. Willkommen in unserer Runde. Grüß dich, Gestern. Willkommen in dieser Stunde.“

 


Foto 1: 2017er Vinyl-Ausgabe
Foto 2: Großformatiges Booklet mit allen Liedtexten und Fotos
der Vinyl-Box ´Jahreszeiten 1967-1977´.