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MARIANNE FAITHFULL & WARREN ELLIS – She Walks In Beauty

~ 2021 (BMG Rights Management/ADA/Warner Music) – Stil: Ethereal Lecture ~


Marianne Faithfull ist erst 74 Jahre. Doch die weltweit grassierende Pandemie hat ihr schwer zugesetzt. Viel schlimmer als erbeten. Marianne war nicht nur vom Virus infiziert, sondern starb fast an diesem. Er richtete bei ihr Schäden in der Lunge und am Erinnerungsvermögen an und bescherte ihr zudem eine anhaltende Müdigkeit. Doch die Frau, die dereinst vier Jahre lang den Rock’n’Roll in den heftigsten Zügen genossen hat, wirft so schnell nichts aus der Bahn. Eine wahre Kämpfernatur meistert auch die Gegenwart, die sie momentan mit ihrem Sohn, ihren Enkelkindern und sehr guten Freunden genießt.

Kurz vor und während des ersten Lockdowns 2020 fand Marianne sogar Zeit, ein Album anzugehen, über das sie schon jahrelang nachgedacht hatte. Doch es ist kein gewöhnliches Werk geworden, sondern ein äußerst besonderes, es ist eine Vertonung von Gedichten. Denn seit ihrem 16. Lebensjahr entwickelte Marianne einen echten Enthusiasmus für englische Dichter der Romantik und bereits bei ihrem Comeback-Werk ´Broken English´ im Jahre 1979 griff sie im Song ´Why D’Ya Do It´ ein Gedicht von Heathcote Williams auf. Im Jahr 1995 vertonte sie auf ´A Secret Life´ ein Gedicht ihres Freundes Frank McGuinness und ihre Kurt Weill- und Bertolt Brecht-Periode hatte sie 1998 auf ´Seven Deadly Sins´. 2008 und 2009 präsentierte sie sogar mit dem Cellisten Vincent Ségal auf der Bühne Sonetten von William Shakespeare.

Marianne Faithfull konnte für die Poesie-Platte Komponist und Multiinstrumentalist Warren Ellis (DIRTY THREE, NICK CAVE) zur Mitarbeit überreden. Sie nahm ihre Lesungen in ihrem Gästezimmer auf und übersandte die Sprachaufnahmen an Warren Ellis, der sie wie seine Filmarbeiten vertonte. Er nahm sich alle Freiheiten, die Gedichte mit akustischen und elektronischen Instrumenten zu verweben. Zu guter Letzt ließ sich Nick Cave von diesen meditativen Ergüssen verzaubern und steuerte noch weitere Klavierspuren bei. Brian Eno fügte zu zwei Liedern (´La Belle Dame Sans Merci´ und ´The Bridge Of Sighs´) noch Soundscapes und Vincent Ségal obendrein Cello-Klänge (´To The Moon´ und ´So We’ll Go No More A-Roving´) hinzu. Marianne selbst griff nach starker Poesie und wählte Werke von Percy Bysshe Shelley, John Keats, Lord Byron, Williams Wordsworth, Lord Tennyson und Thomas Hood aus.

Man muss sie ganz einfach lieben, ganz einfach gern haben. Der Eine wegen ´Broken English´, der Andere wegen ´Strange Weather´ oder ´Before The Poison´, und die Allgemeinheit aufgrund des Evergreens ´The Ballad Of Lucy Jordan´.

Und jetzt greift Marianne Faithfull nach den Sternen der Weltliteratur. „Diese begleiten sie schon ihr ganzes Leben,“ sagt Ellis. „Sie glaubt an diese Texte. Diese Welt, sie bewohnt sie – ja, verkörpert sie, und das spürt man. Sie meint es wirklich ernst. Es ist nicht nur einfaches Lesen. Das Beste daran, diese Gedichte zu hören, ist, dass sie einen total mitnimmt. Sie lädt dich ein, mit ihr in diese Welt zu gehen. Das macht sie auch mit einem Song. Ich war dabei – habe gesehen, was sie im Studio macht, wie sie auf eine Weise singt, so dass kein Auge trocken bleibt.“

Zu Vogelgezwitscher in einer morgendlich leichten Stimmung rezitiert Marianne Faithfull ´She Walks In Beauty´ von Lord Byron, ebenso die wenigen Verse seines ´So We’ll Go No More A-Roving´. Völlig entrückt, in einer schwebenden Aura, geradezu an einem besseren Ort, zeigt sich die Hintergrundinszenierung von Thomas Hoods ´The Bridge Of Sighs´. Schwermütig sägend ist John Keats‘ ´La Belle Dame Sans Merci´ und noch epischer ´Ode To A Nightingale´, bei der sich die Stimme bereits auf der anderen Seite des Daseins befinden könnte. Denn die ´Ode To Autumn´, erneut von John Keats, klingt mit ihrer Klavier-Unterfütterung wie der Vorhof zur Hölle in drei Strophen. Nur eine Strophe benötigt Marianne mit ´Ozymandias´ von Percy Bysshe Shelley sowie mit ´Surprised By Joy´ von Williams Wordsworth. Schwebend erschaudert ´From The Prelude´, abermals von William Wordsworth, und wie aus dem Raumsegler im All sprechend trägt sie die sechs Zeilen von ´To The Moon´ aus der Feder von Percy Bysshe Shelleys vor. Das mächtige, kraftvolle Finale umfasst die 20 Strophen von Lord Tennysons ´The Lady Of Shalott´.

„Was it a vision, or a waking dream?“

 


Pic: Rosie Matheson
(VÖ: 30.04.2021)