PlattenkritikenPressfrisch

NICK CAVE & WARREN ELLIS – Carnage

~ 2021 (Goliath Records/AWAL Recordings) – Stil: Electronica/Rock ~


Ein Gemeinschaftsprojekt von Nick Cave & Warren Ellis ist nichts ungewöhnliches mehr. Seit 1993 kennen sich die beiden Männer. Sie arbeiteten nicht nur bei GRINDERMAN zusammen, sondern bei unzähligen Soundtracks („The Proposition“ 2005, „The Road“ 2009, „Lawless“ 2012, „West Of Memphis“ 2014 u.v.m.). Seit über zwanzig Jahren ist Ellis, seit ´Let Love In´ (1994) als Gast, seit ´The Boatman’s Call´ (1997) als festes Mitglied bei NICK CAVE & THE BAD SEEDS involviert. Ein gewöhnliches Studioalbum unter dem Namen NICK CAVE & WARREN ELLIS stand gleichwohl noch nicht auf dem Programm.

Während ihre bisherigen instrumentalen Scores von Ellis‘ elektronischen Loops fundamentiert und hernach mit den Klavier-Improvisationen von Cave versehen wurden, führen NICK CAVE & WARREN ELLIS auf ihrem ersten offiziellen Duo-Werk ´Carnage´ die Improvisationsmuster des letzten NICK CAVE & THE BAD SEEDS-Werkes, ´Ghosteen´, fort. Ohne die restlichen Mitglieder der BAD SEEDS messen sie die Grenzen des Songformats abermals neu aus.

Dass der schiere Wahnsinn aus diesem Songmaterial herausspringt, nimmt bereits der Albumtitel ´Carnage´, übersetzt Gemetzel oder Blutbad, vorweg. Während des ersten Pandemie bedingten Lockdowns im Jahre 2020 sitzt Nick Cave auf seinem Balkon und skizziert Texte, während die scheinbar drohende Apokalypse Tod und Trauer über die Menschheit herabregnen lässt, spielt mit Bildern und Metaphern, wie wir im letzten Song des Werkes, im Klavier betonten ´Balcony Man´ erfahren. „Was mich nicht umbringt, macht mich stärker,“ sagte bereits Nietzsche. Cave rezitiert im letzten Satz des Songs und somit des gesamten Werkes sein seinerzeitiges Gefühlschaos: And what doesn’t kill you, just makes you crazier.

Was dich nicht umbringt, macht dich nur verrückter. Anstatt mit den BAD SEEDS auf Tournee zu gehen, um durch das Spielen der letzten Lieder das eigene Trauma endgültig zu überwinden, sitzt Cave 2020 auf dem Balkon und sieht die Welt im Chaos versinken, kann sich nicht mehr der persönlichen Trauer widmen, Caves Sohn starb 2015, sondern dem neuen Trauma der gesamten Menschheit. Nur einmal, am 23. Juli 2020, setzt er sich im Alexandra Palace in London alleine an den Flügel und spielt sich mit alten und neuen BAD SEEDS-Songs sowie weiteren von GRINDERMAN die Desillusionierung von der Seele, nachzuhören auf ´Idiot Prayer: Nick Cave Alone At Alexandra Palace´. An den anderen Tagen, an denen niemand so recht bei Verstand ist, sitzt Cave auf dem Balkon und hadert mit Gott und der Welt, fertigt Songs, um nicht dem Wahnsinn zu verfallen.

In der Zusammenarbeit mit Ellis erblicken hernach in kürzester Zeit acht Lieder das Licht der Welt. Für alle Beteiligten so überraschend wie das Hereinbrechen der Pandemie 2020 verwirklichen sie innerhalb weniger Tage ´Carnage´.

 

 

There are some people trying to find out WHO. There are some people trying to find out WHY. Im Opener ´Hand Of God´ stellt Nick Cave sogleich nervenzerreißend die richtigen Fragen. Doch nach dieser Einleitung erfolgt ein Szenenwechsel, Streicher ertönen zum Beat, und die Musik wird eindringlicher und hypnotischer. Cave spielt von nun an mit Metaphern, dass etwa hier die Hand Gottes auf uns herniederfährt. Elektronik, Synthesizer, Loops und Geige bestimmen derweil die Szenerie, später auch mal Klavier und Gitarre. Bisweilen jammert Cave zur Eröffnung wie Robert Plant in seinen mittleren Jahren. Langsam schleicht sich hernach ´Old Time´ herein und zieht den Hörer im dunklen Puls immer wieder in die Tiefe herab. Dieser finstere Road-Trip sucht den Weg zurück in die gute alte Zeit, biegt jedoch immer wieder falsch ab. Wherever you are, darling, I’m not that far behind. And absolutely nowhere we can go.

Schimmernd zeigt sich ´Carnage´ mit den wenigen hellen Flecken der Dunkelheit. Glöckchen schellen und Nick Cave sitzt wieder, in Erinnerungen schwelgend, mit etwas Liebe im Regen auf dem Balkon. Schwerfällig wandert der ´White Elephant´ perkussiv durchs Dickicht. Cave spricht über den harrenden, weißen Elefanten mit seinem Gewehr, unterdessen Demonstranten Skulpturen ins Wasser werfen – Szenenwechsel und Halleluja. Cave & Ellis stimmen ein Hymnus an; alle singen vom Königreich im Himmel, dessen Zeit kommen wird – alles wird gut: A time is coming. A time is nigh. For the kingdom in the sky. We’re all coming home.

Selbst ´Albuquerque´ bleibt sentimental und hymnisch, geradezu im Sinne von Bruce Springsteen, da unvermittelt die Gedanken aufkommen, in diesem Jahr an keinen anderen Ort zu gelangen. Streicher versüßen die sehnsuchtsvolle Ballade ´Lavender Fields´, sehnsüchtig nach einer besseren Welt, die Cave auf einer einzigartigen Straße, mit Lavendel hoch bis zum Himmel, durchschreitet, allein in einer wütenden Welt, ehe nochmals – kein Szenenwechsel – der Hymnus angestimmt wird: We don’t ask why there is a kingdom in the sky.

Das Gemetzel, das Blutbad, der Wahnsinn ist überall spürbar. Vielleicht metaphysischer als es die Äquivalenz zur Realität erscheinen lässt. Zumindest der Mond steht zum nahenden Abschied, gleichsam dieses recht kurzen 40-Minuten-Werkes, in ´Shattered Ground´ hoch am Firmament: The moon is a girl with the sun in her eyes. Goodbye. Goodbye.

(9 Punkte)

https://www.facebook.com/nickcaveandthebadseeds


Pic: Joel Ryan
(VÖ: LP&CD 28.05.2021)