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SCHILLER – Summer In Berlin

~ 2021 (Nitron Concepts / Sony Music) – Stil: Popular Electronic ~


Wieder einmal heißt es „Herzlich willkommen in der neuen Welt von SCHILLER…“. Brave Kinder kennen’s schon, für Neuentdecker bleibt diese kleine „Bedienungsanleitung“ alles, was man im Vorfeld wissen muss und beachten sollte. Weiteres über Christopher von Deylen und seinem Herzensprojekt entnehmt ihr unserem Review vom 2019er Vorgängeralbum ´Morgenstund´.

Viele gute Alben beginnen mit einer Geschichte. Einem Konzept. Auch wenn sich das nur im Kopf des Künstlers abspielt, anstatt mit Starbesetzung und Groschenromanhandlung zur Rockoper aufgeblasen wird. Wer sich als Elektroniker durch Berlin inspirieren lässt und der Stadt ein klangliches Denkmal setzt, kommt an TANGERINE DREAM nicht vorbei – Christopher von Deylen sowieso nicht. Und auch in der Vergangenheit schwebten wir mit SCHILLER schon durch ruhige, meditative, rhythmische Ambientsphären, die durch präzisen Einsatz von Höhepunkten mithilfe fähiger Musiker besonders live zum packenden Erlebnis wurden.

Zur Zukunft und zum Fortbestand der Elektrosphärentitanen gehört definitiv SCHILLER, auch wenn Jean-Michel Jarre mit seinen Jahrhundertwerken ´Electronica 1 & 2: The Time Machine & The Heart Of Noise´ durch Kollaborationen mit der Crème de la Crème aller Altersgruppen der Szene eine musikalische Enzyklopädie der elektronischen Musik des Gestern, Heute und der kommenden Ewigkeit erschaffen hat. Doch genau auf diesen Spuren wandelt eben SCHILLER in seinem eigenen, vor über 20 Jahren erschaffenen Kosmos, der Alt und Neu verbindet, entspannt, unterhält, zum Nachdenken anregt und als I-Tüpfelchen Star-Cameos einbindet. Man denke nur an die grandiosen Gänsehautmomente mit Midge Ure (ULTRAVOX), Anggun oder Anke Hachfeld (MILA MAR), um nur meine persönlichen Faves zu nennen. Damit wird Musik zum Leben selbst, zu weitaus mehr als schönklingender Unterhaltung.

 

 

Doch kommen wir zur neuen Scheibe und damit wieder zum Anfang meiner kleinen Vorstellung. SCHILLER dem Unwissenden erneut zu Beschreiben erscheint ein Ding der Unmöglichkeit, wenn nicht gar unsinniges Unterfangen. SCHILLER wollte schon immer gehört, genossen und selbst entdeckt werden und passt als Gesamtkunstwerk nicht in Genre-Schubladen, braucht keine Bewertungen oder Deutungen, sondern gehört in große Hallen zum Kollektivträumen, auf wertvolle Anlagen oder über Kopfhörer in euer Ohr.

Erst dann erwarten euch entspannende, akustische Longtrack-Traumreisen, die in einem dynamischen Auf und Ab der wellenhaften Intensität keine Fragen nach Songdauer stellen, sondern wie auch schon bei den Altvorderen der elektronischen Musik die Hingabe zum Herzschlag des Beats und träumerischen Sounds fordern (´Dem Himmel so nah´, ´Der Klang der Stadt´), jedoch ganz in perfekter Harmonie und ohne die experimentellen Stressphasen, die das Experimentieren im Umgang mit den neu entdeckten, elektronisch erzeugten Frequenzen damals teilweise mit sich brachte.

Daneben stehen Momente treibender Rhythmik, die den Körper regelrecht zur Bewegung auffordern (´Der goldene Engel´, ´Liebe aus Aphalt´), gefühlvolle Pop-Perlen mit weiblichen Vocals (´Better Now´ mit Janet Devlin, ´Guardian Angel´ und ´Miracle´ mit Tricia McTeague), rhythmischem Synthwave (´Metropolis´), die famose 80er Hit-Zeitreise nach ALPHAVILLE (´Summer In Berlin´), um im eben dort angesiedelten KRAFTWERK selbst noch ein wenig zu verweilen (´Wenn die Nacht erwacht´) und viele musikalische Beobachtungen des Großstadtlebens mehr, das den Freund des SCHILLERschen Klangkosmos verzaubert.

 

 

Als Zugabe spendiert SCHILLER dem CD-Käufer in der Deluxe Edition ein weiteres Livealbum – bzw. im kommenden Boxset weitere Livealben in Bild und Ton, die zusammen mit dem neuen Werk acht Stunden Material (!) ergeben. Die Höhepunkte der CD-Version ´Live in Berlin´ mit Schwerpunkt auf den Titeln des 2019er Albums ´Morgenstund´ bilden zum einen die Stücke mit Gesangseinlage (´Avalanche´, ´Universe´, ´Velvet Aeroplane´) und meine persönlichen Faves: die beschwingten ´Berlin – Moskau / Theran´ – Reisen, ´Das Glockenspiel´, ´Ruhe´, ´Schiller´ und… und… und… ach was, vergesst es, live ist SCHILLER eh immer „Best Of“ – egal, was ausgewählt wird. Die nicht enthaltenen ´Always You´ mit Anggun und ´Let It Rise´ mit Midge Ure dagegen bleiben in der Livedarbietung von der „Atemlos Tour“ 2010 weiterhin unerreichte Jahrhundertsongs, die man wenigstens auf DVD oder Bluray gesehen haben sollte und in meinem Universum nicht mehr grandioser reproduzierbar sind.

Wer SCHILLER immer noch nicht kennt, kann mit seinem aktuellen Werk das Ticket lösen und zur Entdeckungsreise zusteigen, die Kenner sind bereits an Bord und bleiben es auch. Ihr müsst nur darauf achten, für welche Version ihr euch entscheidet, denn es gibt leider eine kastrierte Sparbrötchenversion auf Vinyl, die lediglich mit einer Auswahl von fünf neuen Stücken und einigen Livesongs der beiden Silberlinge den ein oder anderen bereits unsanft aus seinem Traum vom vollständigen Glück einer kompletten Liedersammlung gerissen hat.

 

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Pics: Annemone Taake