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PAUL McCARTNEY – McCartney III

~ 2020 (Capitol Records) – Stil: Rock ~


Home-Recording-Sessions III.

Beim ersten Solo-Album von Paul McCartney (´McCartney´, 1970) wurde ihm zuerst vorgeworfen, die Trennung der BEATLES herbeizureden. Später feierte man die Aufnahmen einer Vier-Spur-Maschine aus dem Winter 1969/70 als Vorreiter des Do-It-Yourself-Prinzips. Schließlich war ein minimalistisches ´McCartney´ das komplette Gegenteil einer in den Siebzigerjahren so geliebten Bandproduktion.

Ebenfalls kurz vor der Auflösung von McCartneys Formation WINGS veröffentlichte er zehn Jahre später seine zweiten Home-Recordings (´McCartney II´, 1980). Diese standen mit experimentellen Klängen und Electronica im kompletten Gegensatz zum Stadion-Rock der WINGS. Paul McCartney wurde sogar ungewollt das Etikett des ersten Electronica-Nerds angeheftet.

Nicht wenige Menschen lieben daher an den beiden Werken insbesondere die Experimentierfreude und die Unvollkommenheit und heben sie über viele andere Werke des Ex-BEATLE in den Olymp.

2020 kam es ungeplant zu weiteren Home-Recording-Sessions.

Paul McCartney wollte eigentlich in diesem Jahr seine laufende Tournee fortsetzen, doch der erste britische C19-Lockdown zwang ihn zu einer Pause, die er in seinem Haus mit Tonstudio in Sussex nutzte, neue Lieder zu schreiben. Tagsüber nahm er die Kompositionen auf, die er abends seiner Tochter und ihrer Familie vorspielte. Es war Paul McCartneys persönlicher „Rockdown“.

Im Gegensatz zu den direkten Solo-Vorgängern ließ er sich auf seinem 19. Solo-Album, dem insgesamt 49. Album seit der Trennung der BEATLES, nicht unbedingt von aktuellen Musiktrends beeinflussen. Gleichwohl hat er bei seinen dritten Home-Recordings (´Paul McCartney III´, 2020) natürlich abermals alle Instrumente selbst eingespielt sowie die Produktion übernommen.

Die Experimentierfreude ließ bei Paul McCartney zwar im Verhältnis zu den 40 Jahre älteren Home-Sessions II etwas nach, doch Paul McCartney hat wieder besondere Freude am Gitarrenspiel gefunden. Zudem sollte diese extreme Qualität noch in den kommenden Dekaden ebenso wie die der Vorgänger-Home-Sessions geschätzt werden.

Die Gedanken von Paul McCartney zu Beginn der Home-Recording-Sessions schwirrten um eine Langschwanzente und eine Filmmusik. ´Winter Bird´ war der Startschuss, dessen Melodie er für einen Kurzfilm angedacht hatte. Vollständig ausgearbeitet wurde daraus die längere Eröffnungsnummer ´Long Tailed Winter Bird´ über die Langschwanzente, von denen Paul McCartney in einem Vogelbuch gelesen haben will. Die Frage „Do you, do-do, do you miss me?“ hören wir in dem Song erst nach einigen Minuten, in denen uns Macca bereits allein mit seiner Gitarre in folkloristische Bahnen gezogen hat. Ein Song ohne Anfang und Ende, der bis in alle Ewigkeit gespielt werden könnte. Und natürlich haben wir ihn vermisst.

Aus der Filmmusik wurde letztlich die Abschlussnummer ´Winter Bird / When Winter Comes´, eine idealistische, Hippie-eske Vorstellung vom Leben auf dem Bauernhof. Denn Paul liebt die Natur und die echte, schmutzige Arbeit mit den Händen. Die vollkommene Entschleunigung aus der Gegenwart – für Komponist und Zuhörer. ´When Winter Comes´ hatte er erstmals im September 1992 versucht, mit George Martin aufzunehmen. Und genau so lieben wir Macca, wenn er ferner in solch einem klassischen Song wie ´The Kiss Of Venus´ über den Kuss der Erde und der Venus singt, von diesem Moment, wenn sich die beiden Planeten am nächsten sind. Entstanden ist diese Vorstellung auf der Grundlage eines Hippie-Buches, das ihm wiederum ein Freund überließ.

Über emotionalen Beistand singt Paul McCartney in der Komposition ´Find My Way´, deren Idee ihm im Auto entsprang. Ebenso mit Falsett-Gesang wie in dem Song ´Deep Down´, dessen Grundgedanke sich hingegen erst nach und nach im Groove vervollständigen musste. Seine surrealistische Vorstellung über Carpe Diem hielt er in ´Seize The Day´ am Klavier fest. Die Klavierballade ´Women And Wives´ singt er dagegen tiefer im Sinne des Blues, begann er doch in Los Angeles an dem Stück zu schreiben, als er über den Blueskünstler Leadbelly las.

Diese eine unsympathische Person, die jeder Mensch kennt, behandelt ´Lavatory Lil´ in einem harten Rock’n’Roller, der wie so einige den ´Abbey Road´-Tagen entsprungen sein könnte. Der epische Klavier-Freak ´Deep Deep Feeling´ breitete sich sogar aus einer Jam-Session heraus aus und das Monster-70s-Doom-Riff aus dem Space-Trip ´Slidin´ entwickelte sich einst in Düsseldorf auf Tour während eines Soundcheck-Jams. Bei diesem Songtitel dachte Paul McCartney erneut in Filmmusik-Sphären und hatte Snowboarder und Skifahrer im Kopf. Das Bild von Fährrädern und Rollern in Reih und Glied, die angemietet werden können, verband er an anderer Stelle mit schlecht behandelten, männlichen Models und ließ in der Story von ´Pretty Boys´ diese hübschen, mietbaren Jungs antreten, die keine Ähnlichkeiten mit den BEATLES haben sollen.

(9 Punkte)

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