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RATIONAL YOUTH – Cold War Night Life

~ 1982/2019 (Universal Music Canada) – Stil: Synthpop ~


Die kanadischen KRAFTWERK-Anbeter hießen Anfang der Achtzigerjahre RATIONAL YOUTH. Ihre Aktivität hielt nur fünf Jahre an, zwischen 1981 und 1986, und konnte bei aller Produktivität neben zwei Studioalben natürlich auch eine EP und massig Singles vorweisen. Ein erstes Quasi-Comeback um die Jahrtausendwende brachte das Werk ´To The Goddess Electricity´ (1999) hervor und die seit einem Jahrzehnt anhaltende Reaktivierung immerhin eine EP namens ´Future Past Tense´ (2016).

RATIONAL YOUTH dürften 1981 in Montreal von Tracy Howe und Bill Vorn als erste Synthpop-Formation Kanadas aufgebaut worden sein. Tracy Howe war zuvor in einer Punkband (THE NORMALS), dann in einer der ersten mit Synthesizern (HEAVEN SEVENTEEN) und schließlich noch mit deren Keyboarder in MEN WITHOUT HATS aktiv. Zusammen mit Keyboarder Mario Spezza gründeten Howe und Vorn im schönen Sommer 1981 RATIONAL YOUTH.

Nach der ersten Single ´I Want To See The Light´ wurde Keyboarder Mario Spezza durch Kevin Komoda ersetzt. In dieser Drei-Mann-Besetzung nahmen sie das Debüt ´Cold War Night Life´ fertig auf, das nach über einjähriger Arbeit im März 1982 erschien. Doch die Trio-Besetzung hielt nicht lange. Bill Vorn verließ 1983 die Gruppe und wurde Jahre später Professor am Department of Studio Arts der Concordia University. Tracy Howe versuchte derweil die Gruppe in anderer Besetzung mehr schlecht als recht fortzuführen. 1985 waren seine musikalischen Ambitionen schließlich zu einem Ein-Mann-Projekt gediehen. Das in diesem Jahr veröffentlichte zweite Album ´Heredity´ erschien jedoch allein aufgrund des Drängens der Plattenfirma unter dem Banner RATIONAL YOUTH. Diese bis heute andauernde Fortführung der Gruppe stieß bereits Mitte der Achtzigerjahre nicht überall auf große Gegenliebe.

 

 

Immerhin fanden Tracy Howe und Bill Vorn nochmals 2009 zusammen, um zum Jubiläum des Berliner Mauerfalls eine frische Variante ihres Songs ´Dancing On The Berlin Wall´ aufzunehmen. Denn zum Zeitpunkt der Aufnahmen ihres Debüts ´Cold War Night Life´, das 2019 auf wunderschönem und teurem Vinyl durch „Universal Music Canada“ wiederveröffentlicht wurde, befand sich der „Kalte Krieg“ zwischen den Westmächten und dem Ostblock zwar nicht mehr auf seinem Höhepunkt, doch eine Entspannungsphase sah anders aus. Die USA unter Jimmy Carter boykottierten die Olympischen Sommerspiele 1980 in Moskau und Ronald Reagan trieb die Rüstungsausgaben auf das nächste Rekordniveau. Diese Spaltung zwischen Ost und West war seit der Errichtung der Berliner Mauer als „Antifaschistischer Schutzwall“ für jedermann ersichtlich.

 

 

Berlin war Anfang der Achtzigerjahre grau und dreckig. Die EINSTÜRZENDEN NEUBAUTEN sangen dementsprechend „Ich steh auf Zerfall, ich steh auf Krankheit, ich steh auf Niedergang, ich steh auf Ende.“ In den Jahren zuvor, von 1976 bis 1978, war David Bowie in der Stadt, um sich von seinen Drogenexzessen zu erholen und neue Ideen zu sammeln. Nachzuhören auf der „Berlin Trilogie“: ´Heroes´, ´Low´ und ´Lodger´. Doch drogenfrei war Berlin nie. 1978 erschien der Tatsachenroman „Christiane F. – Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ und das Nachtleben blühte schon in überschaubaren Diskotheken und Bars, ohne bereits glamourös zu sein.

Es war die Zeit, in der die echte Apokalypse näher war als das Leben von Morgen. Wenn am nächsten Tag der Atompilz vor deinen Augen aufblühen sollte, dürfte seine Strahlung dein Fleisch wie Butter von den Skelettknochen tropfen lassen.

Daher schnappten sich RATIONAL YOUTH die Hornbrille von Special-Agent Harry Palmer, inspizierten den Grenzübergang Checkpoint Charlie an der Berliner Mauer und holten die auf dem Alexanderplatz tanzenden Partyleute zur Grenzbebauung. Zusammen wollten sie endlich ´Dancing On The Berlin Wall´. Weiß Gott ohne David Hasselhoff.

 

 

RATIONAL YOUTH gingen dereinst mit all ihren Roland-Synthesizern und der Drum-Maschine in die „Ultrasound Studios“ von Montreal, um ein erstes Synthpop-Album aus Kanada aufzunehmen; und nicht, wie die Rock-Engineers anfangs dachten, kurz ein Demo.

Bereits ´Close To Nature´ umweht mit seinem anfänglichen Sprechgesang dieser Hauch der Spät-Siebzigerjahre-Keyboards. Den leichten Einfluss von KRAFTWERK nicht leugnend, entflammt hierbei der künftige Disco-Beat. Liebhaber des Brit-Synthpop gehen hingegen bei ´Beware The Fly´ in Flammen auf, bei der Geschichte über Mr. Nietzsche, Tony Walker und Leon Trotsky. Die Synthpop-Ohrwürmer für die Disco oder die heimische Feier liefern ´Saturdays In Silesia´ sowie das mit Mega-Tüt-Tüt-Keys ausstaffierte ´City Of Night´. Labsal für die Szene der New Romantics war dagegen ´Ring The Bells´. Das gleichfalls düstere ´Just A Sound In The Night´ besitzt neben Brit-Synthpop sogar Einflüsse der Berliner Schule.

´Le Meilleur Des Mondes´, ein reguläres Instrumental, wird von dem NDW-lastigen ´Power Zone´ aus dem Pool der Bonus-Stücke noch übertroffen. Denn im Gegensatz zum 1997er Rerelease enthält das Vinyl sechs anstatt nur drei Zugaben: ´Saturdays In Silesia´ in der Extended-Siebenminuten-Version sowie ´City Of Night´ im Dance-Mix. Überragend ist zudem ´Cité Phosphore´, die französische Version von ´City Of Night´ sowie der bekannte Bonus ´Coboloid Race´ mit seinen Plastik-Metall-Päng-Päng-Schlägen.

Beinahe 40 Jahre später lebt der „Antifaschistische Schutzwall“ wieder in den Köpfen auf. Die Musik von RATIONAL YOUTH und insbesondere ihr legendäres Debüt ´Cold War Night Life´ bereichern stattdessen das Tag- und Nachtleben kontinuierlich.

(Klassiker)

 

https://www.facebook.com/RationalYouth/

Tracy Howe – Gesang, Synthesizer
Bill Vorn – Synthesizer, Vocoder, Programming
Kevin Komoda – Synthesizer
Mario Spezza – Synthesizer on ´I Want To See The Light´, ´Coboloid Race´