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GLACIER – The Passing Of Time

~ 2020 (No Remorse Records) – Stil: US Metal ~


Die Welt ist schon verrückt. Sie wird täglich verrückter. Aber es gibt auch Positiv-Verrückte. Da nimmt eine Musikgruppe aus Portland, Oregon, über 40 Jahre nach Bandgründung ihr Debütalbum auf, nur weil sie aufgrund einer kleinen EP vor 35 Jahren nicht in Vergessenheit geraten ist. Verrückt. Denn nach weiteren Demoaufnahmen verabschiedeten sich die Herrschaften in den Achtzigerjahren wieder schnell aus den Szene. Dennoch mehr als ein guter Grund für all die Wahnsinnigen der Szene, seither das Gedenken an GLACIER noch höher zu halten und der Formation den Kult- und Legenden-Status anzuheften. Dabei hatte die EP nur fünf Lieder vorzuweisen, die verrückter Weise von drei Sängern eingesungen wurden. Auf der A-Seite der EP sangen Keith Flax, der später noch Gastspiele bei JACK STARR’S BURNING STARR oder VALHALLA hatte, und Rex Mcnew; die drei Songs der B-Seite gehörten hingegen Michael Podrybau. GLACIERs selbstbetitelte EP aus dem Jahr 1985 war schlichtweg US Metal höchster Güteklasse.

Erfreulicherweise ist die Geschichte an dieser Stelle nicht zu Ende. Weil Sänger Michael Podrybau 2016 eine GLACIER-Tributband namens DEVIL IN DISGUISE aus dem Boden stampft, um an einem Festival in den USA teilzunehmen, das aber abgesagt wird, spielen sie 2017 auf einem Underground-Festival in Deutschland. Im Winter 2017 fällt die Entscheidung, den Namen GLACIER wieder anzunehmen, mit einem klar umrissenen Ziel. Allein mit Michael Podrybau als Original-Mitglied beginnt das Abenteuer, ein vollständiges Album aufzunehmen. Doch neben Gitarrist Michael Maselbas (AGAINST THE PLAGUES), Gitarrist Marco Martell (AGAINST THE PLAGUES, MALEVOLENT CREATION), Bassist Alex Barrios und Schlagzeuger Adam Kopecky (TRIALS) bringen sich bei den Aufnahmen auch zwei Original-Mitglieder ein, Bassist Tim Proctor und Schlagzeuger Loren Bates. Ein Gastspiel gibt obendrein bei zwei Kompositionen Bassist Phil Ell Ross (ex-MANILLA ROAD).

2020 ist die Zeit reif, der Wahnsinn nimmt seinen Lauf, GLACIER veröffentlichen ihr Banddebüt ´The Passing Of Time´. Klassische 40 Minuten an Musik mit acht Kompositionen, wobei zwei tatsächlich noch aus den verrückten Achtzigerjahren stammen.

Der Opener ´Eldest And Truest´ marschiert wie zu besten Zeiten, welche auch immer es waren, in der Tradition von IRON MAIDEN. „Es liegt im Blut“, lautet der eigentliche Schlachtgesang. Von seiner Melodik-Dichte ebenso im Kanon von RIOT zu verankern. Die neue Bandhymne hört auf den Namen ´Live For The Whip´ und geht auf alte Zeiten zurück, so dass sich Tim Proctor und Loren Bates ihre Beteiligung nicht nehmen lassen. Insbesondere hier tönt Sänger Michael Podrybau wie eine Mischung aus Harry „The Tyrant“ Conklin und Gerrit P. Mutz. Auch das epische, dramaturgisch aufgebaute ´Sands Of Time´ entstammt der Basis all dieser Konstellationen. Dagegen ist ´Ride Out´ eine geradezu kraftvolle Komposition, deren inneren Werte entdeckt werden müssen, ehe gemeinsam der Titel skandiert wird. ´Valor´ wechselt zwischen NWoBHM-Power im Sinne von SAXON und einer Schlachthymne. Dem Geschwindigkeitsrausch setzt sich derweil ´Into The Night´ aus. Sodann startet ´Infidel´ wieder wie die Jungfrauen der 80s und zeigt sich umgehend als rhythmisch kraftvoll verspielter und melodisch, zum Mitsummen geeichter Song. Dieser Schlachtenruf könnte sich als absoluter Dauerbrenner des Debüts entwickeln: „Gott schütze die Ungläubigen.“ Das Finale ´The Temple And The Tomb´ zeichnet sich durch einige Tempowechsel äußerst dynamisch aus und nimmt alle Headbanger, sobald die Schlagzahl mächtig erhöht wird, bis an die Euphoriegrenze mit.

Verrückte Zeiten, verrückte Musik für verrückte Menschen. GLACIER präsentieren entgegen dem Zeitgeist klassischen US Metal in voller Power-Montur. Selbst Hörern, denen die Gnade der späten Geburt zuteil wurde, sollten bei ´The Passing Of Time´ bisweilen Freudentränen einschießen.

(8,5 Punkte)

https://www.facebook.com/GlacierMetal/


(VÖ: 30.10.2020)