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AYREON – Transitus

~ 2020 (Music Theories Recordings) – Stil: Rock/Metal Oper ~


Arjen Anthony Lucassen mit seinem Projekt AYREON vorzustellen hieße Eulen nach Athen tragen. Sein allerneuestes Konzeptalbum trägt den Titel ´Transitus´ und ist samt und sonders mit Gothic- und Horror-Elementen gespickt. Lucassen hat abermals ein großes Aufgebot an Sängerinnen und Sängern engagiert und einen Erzähler, der vor jedem Lied das Voranschreiten der Geschichte kommentiert. Hierfür konnte kein Geringerer als der britische Schauspieler Tom Baker gewonnen werden, bekannt aus den Siebzigerjahren und der BBC-Fernsehserie „Dr. Who”.

´Transitus´ ist somit geradezu prädestiniert für eine Bühnenaufführung. Denn der Niederländer hat anscheinend in den vergangenen Jahren an seinen Live-Aufführungen wie ´Electric Castle Live And Other Tales´ großen Gefallen gefunden. Der Unterschied zu seinen Frühwerken wird somit immer offensichtlicher: Einst erzählte die phantastische Musik von AYREON eine Geschichte, heutzutage erzählt AYREON eine phantastische Geschichte zur Musik.

 

 

Allerdings hält die Erzählung aus dem Jahr 1883/84, in dem die Gesellschaft weit mehr als heutzutage in Arm und Reich, Schwarz und Weiß, Herr und Knecht getrennt war, durchgehend die Spannung hoch: Der Gutsherrensohn Daniel (gesungen von Tommy Karevik, SEVENTH WONDER, KAMELOT) verliebt sich in die Stieftochter der Dienstmagd, in die dunkelhäutige Abby (gesungen von Cammie Gilbert, OCEANS OF SLUMBER). Sein Vater (Dee Snider, TWISTED SISTER) verstößt ihn daraufhin. Fortan darf er im Haus am Friedhof wohnen, das jedoch eines Nachts tragischer Weise abbrennt. Abby kann rechtzeitig fliehen, aber Daniel kommt in den Flammen um. Nun befindet er sich in der Übergangszone zwischen Erde und Himmel und bittet den Engel des Todes, ihn in die Welt zurückzulassen, damit er die Unschuld von Abby beweisen kann. Daniels Bruder Henry (Paul Manzi, ARENA) und Abbys Stiefmutter Lavinia (Amanda Somerville, AVANTASIA, TRILIUM) sprechen derweil Abby die volle Schuld an Daniels Tod zu und spinnen ein Komplott, dessen Ausgang einige tragische Wendungen nimmt.

Am Mikrofon treten außerdem Simone Simons (EPICA) und Marcela Bovio (STREAM OF PASSION) als Todesengel, Johanne James (gewöhnlich Schlagzeuger bei THRESHOLD) als Abbys Vater Abraham, Michael Mills (TOEHIDER) als Gartenstatue, die Daniel den Ratschlag gibt, die Liebe anzunehmen und nicht weiter anzuzweifeln, in Erscheinung.

Die große und lange Ouvertüre ´Fatum Horrificum´ eröffnet das Werk. Tom Baker führt in die Erzählung, dramatische und sinfonische Darbietungen sowie lateinische Chöre in die musikalische Vorführung ein, die von einer schwelgerischen Gitarre auf David Gilmour-Art unterbrochen wird. An der Gitarre, sowie am Bass, Piano, Keyboard, Glockenspiel und Dulcimer, findet sich selbstverständlich Multiinstrumentalist Lucassen ein. Beständig marschiert der Rhythmus, die Songs klingen zumeist düster metallisch, in ´Daniel’s Descent Into Transitus´ entsprechend nach skandinavischem Prog Metal. Tommy Karevik krönt in diesem Song am Ende seinen Gesang mit einem David DeFeis-Schrei.

´Listen To My Story´, aus der Zwischenwelt mit Simone Simons und Marcela Bovio, mundet wie AYREON regelmäßig mundet. Der Song mit dem größten PINK FLOYD-Einfluss, ´Two Worlds Now One´, ist hingegen einer der vielen Songs, die als kleine Stücke von der Story zusammengehalten werden, weit mehr aber kurze Lieder wie ´Old Friend´ und ´Daniel’s Vision´. Mittelalterlich beginnt ´Talk Of The Town´, wenn Henry seinen Bruder Daniel zur Rede stellt, entwickelt dennoch eine klassische, vertraute AYREON-Melodie. Gegensätzlich zeigt ´Dumb Piece Of Rock´ keltische Töne, die jedoch nur den Boden bilden für ein Rock-Theater, bei dem Michael Mills den ganzen Chor der Statuen selbst theatralisch abbildet. Ein bedingt klassischer Hardrocker darf beim Rausschmiss von Daniel aus dem Elternhaus in ´Get Out! Now!´, mit Joe Satriani an der Lead-Gitarre, genossen werden.

Als am brennenden Haus alle Dorfbewohner helfen, das Feuer zu löschen, ist das Urteil bereits gefällt, ´Condemned Without A Trial´. Der Song eröffnet den zweiten Akt mit einzelnen Gesängen und Chören der Bewohner. ´Daniel’s Funeral´ ist zweifellos düster prog-metallisch ausgefallen. Der herausstechende Song des gesamten Werkes ist das Duett von Tommy Karevik und Cammie Gilbert, einerseits trüb marschierend, dennoch gleichsam eine für sich allein stehende Ballade.

Unterdessen sind die Engel des Todes, Simone Simons und Marcela Bovio, von der Komplexität der Menschen überrascht, ´This Human Equation´, ein erneut hektisch ablaufender Metal-Song mit Bläsern. Zur ´Message From Beyond´ übernimmt Marty Friedman die Lead-Gitarre. Alles drängt, in aller Dunkelheit von ´Lavinia’s Confession´ auf die Schlussszene zu. Lateinischer Gesang erschallt zu Abrahams Klagen beim ´Inferno´, der finale Chor in ´Your Story Is Over!´. Erprobte AYREON-Fanfaren setzen letztlich in ´The Great Beyond´ den Schlusspunkt.

Welch Spektakel, welch Schauspiel, das bereits jetzt anhand eines 25-seitigen Comic-Buchs visuell nachzuvollziehen ist, dem chilenischen Zeichner Felix Vega sei Dank.

Arjen Anthony Lucassens AYREON beschert ergo, mit dem Comic in der einen, einem Glas Wein in der anderen Hand, alsbald einige schaurig schöne Abende. Vielleicht sogar bald im Theater …

(8 Punkte)

https://www.facebook.com/ArjenLucassenOfficial/


Pic: Lori Linstruth
(VÖ: 25.09.2020)