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ORGÖNE – MOS | FET

~ 2020 (Heavy Psych Sounds) – Stil: Avantgarde/Doom/Psychedelic/Space Rock ~


Der Mensch im Allgemeinen ist bequem und sein Beharrungsvermögen enorm. Hat er sich erstmal auf etwas eingestellt, z.B. eine Musikrichtung, dann wird es sehr schwer, ihn von den Vorzügen davon abweichender Genres zu überzeugen. Aber es kann dennoch sinnvoll sein, regelmäßig seinen Standpunkt zu überprüfen. Entweder um festzustellen, dass alles andere eben doch Mist ist und sich dann mit noch mehr Hingabe seinen Vorlieben zu widmen, oder man stellt fest, dass die Welt jenseits des Tellerrands auch nicht ganz so übel ist und eine Erweiterung des Horizonts zu einer Zunahme der Lebensfreude führen kann.

Besonders schwierig wird es aber, wenn es sich dabei um etwas handelt, was mit den üblichen Konventionen bricht und in dieser Form nicht nur neu, sondern auch fremdartig und verwirrend ist. Natürlich wendet man bei Musikern immer auch den Begriff des Künstlers an. Jeder der etwas Neues, in dieser Form noch nicht dagewesenes erschafft ist ein Künstler. Wer nur reproduziert ist ein Handwerker. In jedem Künstler steckt aber natürlich auch ein Handwerker, wobei der Handwerker ein weites Feld zwischen Dilettantismus und Perfektionismus umspannt. Gleiches gilt aber auch für den Künstler. Es gibt einen großen Unterschied zwischen Künstlern, die immer wieder die gleichen Komponenten zu neuen Mustern zusammenfügen und jenen Künstlern, die auch die Grundbausteine ihrer Werke neu entwickeln. Die Werke aus der ersten Kategorie entsprechen unserer Erfahrungswelt und konfrontieren uns nicht mit neuen und verwirrenden Strukturen. Es sind die Rembrands, Raffaels, Spitzwegs bis hin zu van Goghs dieser Welt. Man mag sie, oder man mag sie nicht, aber sie stellen unser Verständnis von Kunst nicht auf den Kopf. Anders sieht es mit vielen Künstlern aus, die wie beispielsweise Schwitters nach dem Trauma des Ersten Weltkrieges, oder wie im Fall von Kandinsky der russischen Revolution, bei Miró und Picasso des spanischen Bürgerkrieges und bei Beuys des Zweiten Weltkriegs, ganz neue Wege erfanden, um ihren Gefühlen Ausdruck zu verleihen und damit auch zu verarbeiten. Diese Künstler brachen mit Traditionen und definierten die Kunst ihrer Epoche neu. Dafür ernteten sie zunächst in den meisten Fällen nicht nur Unverständnis, ihnen wurde zum Teil sogar ihre handwerklichen Fähigkeiten abgesprochen. Aber zurück von der bildenden Kunst zur Musik.

Bereits das Cover von ´MOS|FET´ schreit uns förmlich entgegen, dass es sich bei seinem Inhalt eher um Dadaismus und Surrealismus, in Form einer Mischung aus dem Triadischem Ballett von Oskar Schlemmer und der surrealistischen Kreuzigung (Corpus Hypercubus) von Salvador Dalí, als um klassische Kunst handelt. Umso verwirrender ist dann der Titel der Scheibe, der zumindest mich gleich an die nüchterne Welt der Elektronik denken lässt (MOS|FET steht dort für metal-oxide-semiconductor field-effect transistor). Aber vielleicht steckt ja auch etwas ganz anderes dahinter.

Eindeutig festlegen kann ich mich jedoch bei der Herkunft von ORGÖNE. Die Band kommt aus Rennes, der Hauptstadt der Bretagne und wurde 2016 gegründet. Viel mehr Informationen kann ich allerdings nicht bieten. Bei der Suche nach mehr Details zu dieser Band ist aber Obacht geboten, existiert doch eine weitere Band, die sich fast genau so schreibt wie diese Franzosen. Lediglich der Umlaut über dem O ist durch ein Makron ersetzt worden. Verwechslungsgefahr bei der Musik besteht jedoch nicht, spielen die ORGŌNE aus Los Angeles doch einen durchaus sehr zu empfehlenden Funk und Soul, womit sie jedoch weitab von der auf ´MOS|FET´ enthaltenen Musik agieren. Beide Bandnamen beziehen sich aber offensichtlich auf eine von Wilhelm Reich Anfang des letzten Jahrhunderts postulierte und durch ihn als „primordial kosmisch“ charakterisierte Lebensenergie.

Neben ihrer Herkunft kann ich aber noch die aktuelle Zusammensetzung der Band bieten. Sängerin ist die französisch-polnische Olga Rostropovitch, die mit ihrer exaltierten Stimme, und das meine ich im positiven Sinne, im Mittelpunkt der Musik von ORGÖNE steht. Begleitet wird sie von vier Musikern, deren Pseudonyme (besonders schön finde ich Nick Le Cave) ich im Nachfolgenden einfach mal aufführe, um auch die instrumentale Vielfalt, die bei dieser Band zum Einsatz kommt, aufzuzeigen.

Allan Barbarian – Schlagzeug & Percussions
Nick Le Cave – Bass
Tom Angelo – elektrische Orgel, Synthesizer, ein Pianet T, Mandoline, Klarinette, Rekorder
Marlen Stahl – Gitarre, Cello, Violine

Thematisch grasen ORGÖNE auf ihrem Debüt ein weites Feld zwischen Ägyptologie (Songtitel: ´Ägyptology´) und Raumfahrt/Science Fiction (Songtitel: ´Requiem For A Dead Kosmonaut´) ab, was ja beides bereits auf dem Cover thematisiert wird, und schaffen es sogar im Songtitel ´Mothership Egypt´ beides miteinander zu verbinden. (Bei ´Rhyme Of The Ancient Astronaut´ musste ich natürlich unwillkürlich an IRON MAIDEN denken.) Auch der sarkastische Humor ist ihnen nicht fremd, wie der Songtitel ´Soviet Hot Dog (Le Tombeau De Laika)´ beweist.

Musikalisch ist dieses Feld nicht minder groß, entdeckt man doch zwischen viel Doom, Experimental, Progressive, Psychedelic und Space Rock auch sehr viele Anleihen an den 70er (Kraut-)Rock und immer wieder auch Einsprengsel aus Weltmusik, wie beispielsweise mit den beschwingten orientalischen Rhythmen im Opener ´Erstes Ritual´. Opener ist hierbei ein gutes Stichwort, handelt es sich doch bei ´Erstes Ritual´, wie auch beim letzten Stück ´Astral Fancy´ um eine über 19-minütige mehrschichtige Komposition. Auch wenn sich die insgesamt 78 Minuten auf acht Songs verteilen, so liegen tatsächlich lediglich vier knapp 20-minütige Werke vor. Neben ´Erstes Ritual´ und ´Astral Fancy´ bilden das zweite bis vierte Stück die ´Soviet Suite´ und das fünfte bis siebte Stück das Ensemble ´Anubis Rising´.

Ich gebe zu, dass ich die Scheibe nach dem ersten Hören erstmal beiseite gelegt habe, sie aber durch die von Durchgang zu Durchgang neu entdeckten Details immer interessanter wurde, bis sie mich irgendwann in ihren Bann gezogen und schließlich förmlich aufgesogen hat. Insbesondere die beschwörenden 70er-Jahre Orgelklänge, sowie das teilweise schwere und beschwörende Riffing, man höre dazu einfach mal in den Beginn von ´Mothership Egypt´ hinein (s.u.), tragen hierzu maßgeblich bei. Nun könnte man durch meine obigen Ausführungen den Eindruck erhalten, dass hier ein radikales Werk voller Disharmonien und durchgehender Kakophonie vorliegt. Dies ist aber beileibe nicht so. Ja, die fünf Künstler agieren zwar stellenweise sehr experimentierfreudig, liefern aber in Summe ein doch sehr gut verträgliches Debüt ab, welches auch über eine Vielzahl harmonischer Momente verfügt, die vor allem dem Gitarrenspiel von Marlen Stahl zu verdanken sind.

Sicherlich keine Musik für jeden Tag, aber man besucht ja auch nicht täglich eine Kunstausstellung.

Ich erdreiste mich an dieser Stelle deshalb auch nicht, diesem Werk eine Bewertung zu verpassen. Kann man Kunst überhaupt bewerten? Bildet euch selbst eine Meinung…oder auch nicht.

´MOS|FET´ ist am 12. Juni 2020 bei dem in Rom ansässigen Label „Heavy Psych Sounds Records“ Digital erschienen.

Die Do-LP und das Digipak werden am 19. Juni folgen.

https://www.facebook.com/orgone.band/

https://heavypsychsoundsrecords.bandcamp.com/album/org-ne-mos-fet