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JG THIRLWELL & SIMON STEENSLAND – Oscillospira

~ 2020 (Ipecac) – Stil: Experimental/RIO/Prog Rock ~


 

 

Marcus Köhler, 27.4.2020

 

Nach fünf Jahrzehnten Karriere braucht JG Thirlwell keine Einführung mehr. Der Mann mit den tausend Aliassen (FOETUS ist wohl sein berühmtester) hat Musik geschaffen, die von schmuddeligen Rockclubs über Opernhäuser bis hin zu Fernsehbildschirmen reicht. Thirlwell hat bekanntermaßen schon mit einer ganzen Reihe an illustren Namen kollaboriert, u.a. mit NICK CAVE, den MELVINS, SWANS und LYDIA LUNCH und trifft nun mit Simon Steensland auf einen Komponisten und Außenseiter, der in seinen bisherigen Projekten oftmals im SCRATCH ORCHESTRA-Stil arbeitete und generell eine besondere Affinität zum Progressive Rock aufweist.

Das Ergebnis ist eine pulverisierende Klangwand, und es gibt stellenweise auch eindeutige Anspielungen auf KING CRIMSON aus der ´Red´-Ära, aber zweifellos mit einem weit stärkeren Schwerpunkt auf das Jammen in einer breiteren Palette von Instrumenten. Die gemeinsame Liebe zum dunkleren Ende des Progressive Rock scheint jedenfalls der Funke gewesen zu sein, der die Bühne für ´Oscillospira´ erst geschaffen hat und sämtliche der acht überlangen Tracks sind fest in dieser Form, nehmen symphonische Formen an und kanalisieren sie durch eine Kombination aus Kammermusik und Rockinstrumenten, die oftmals von wortlosem Chorgesang gekrönt werden.

Während die Einflüsse zwar offensichtlich sind, verschmolz das Duo die verschiedenen Elemente auf eigene Faust, anstatt ihnen lediglich eine Hommage zu erweisen. Dabei gibt es zahlreiche atemberaubende musikalische Fäden zu bestaunen, etwa in ´Night Shift´ mit seinen rumpelnden Kampfabschnitten aus Trommeln und Blechbläsern, die in Melodien mit schimmernder Spieluhr und Streichern übergehen, sich wiederum allmählich verdunkeln und zu einer klagenden Akkordsequenz verformen. Der Track ´Redbug´ hingegen erinnert in vielen Momenten an GODSPEED YOU! BLACK EMPEROR in ihrer Frühphase. Schwelgerisches Breitwandkino an massivem und bedrückendem Drone.

´Oscillospira´ ist voll von solch cineastisch-sonischer Pracht: Üppige Streicher weichen plötzlich einer Reihe von Bass- und Drum-Stabs oder eine rasselnde Snare-Procession wird überraschend von einem Engelschor übernommen. Musik wie diese ist eben wie eine ganze eigene Geschichte für die Ohren – und es kann auch eine ganze Weile dauern, bis die Handlung vollständig aufgegriffen und verfolgt werden kann.

(7,5 Punkte)

 

 

 

Michael Haifl, 25.5.2020

 

JG Thirlwell und Simon Steensland lernten sich 2017 bei einem Stockholmer Workshop für das GREAT LEARNING ORCHESTRA kennen. Der Eine, James George Thirlwell, ist ein in Brooklyn lebender, gebürtiger Australier. Der 60-jährige ist unter den Künstlernamen JG THIRLWELL, CLINT RUIN, FRANK WANT oder FOETUS sowie von unzähligen Projekten wie MANOREXIA, WISEBLOOD, STEROID MAXIMUS oder BABY ZIZANIE bekannt. Neben Noise, Punk und Americana befindet sich heutzutage auch zeitgemäße, klassische Musik in seinem Repertoire. Der Andere, Simon Steensland, hat seit 40 Jahren sein Hobby zu seiner Berufung gemacht. Als Komponist und Multi-Instrumentalist kann er eine gehörige Portion an Solo-Alben im Bereich der Avantgarde/RIO und des Kammerrock vorweisen, aber ebenso seine Arbeiten mit Kollegen wie MATS / MORGAN sowie die musikalische Ausarbeitungen von Theaterproduktionen.

 

 

Unter dem Banner JG THIRLWELL & SIMON STEENSLAND haben die beiden Männer ihr erstes gemeinsames Projekt verwirklicht, bei dem sie sich die Kompositionsbeiträge untereinander aufgeteilt haben. Aber erst durch die Bearbeitung und den Einfluss des jeweils anderen sowie anhaltende Ausarbeitungen entstanden siebzig Minuten dunkler Pracht.

J.G. Thirlwell sah wohl im Vergleich zu seinem elektronischen Kammerrock MANOREXIA die letzten Werke des Autodidakten Simon Steensland – ´Fat Again´ (2009) und ´A Farewell To Brains´ (2015) – derart gelungen, dass sich das gemeinsame Projekt schnell auf seine musikalische Ausrichtung einigen konnte. Denn diese folgt eindeutig den Fußstapfen der Avantgarde, des RIO und Zeuhl, UNIVERSE ZERO und PRESENT.

 

 

Ein dunkler, brodelnder Kammerrock – unter der Bezeichnung einer Bakterien-Gattung – scheint niemals zuvor besser geeignet gewesen zu sein als ihn derzeit bei finsterer Nacht zu genießen. Geradezu traumhaft versetzen sich die hohen und tiefen Töne im elfminütigen ´Catholic Deceit´ gegenseitig in Rage und immer wieder in einem anderen Kontext in den Rauschzustand.

´Heron´ hofiert dagegen zu Beginn der Komposition und ´Heresy Flank´ in seinem Verlauf geradezu die Zeuhl-Jünger MAGMAs, mit großen Augen einzutreten. Mit jedem Rhythmus-Schlag treibt ´Mare´ dieses Spiel auf die Spitze. Für das Feuer hinter den Schlagzeugkesseln sorgt derweil Steenslands alter Begleiter Morgan Ågren. Ein klassisches Musikeraufgebot für Oboe, Klarinette, Cello, Violine und Saxofon setzt den Kammerrock in Position. Viele ruhige, aber keineswegs blasse Momente zeigen ´Papal Stain´ als Höhlenwanderung und die ´Crystal Night´ unter dem hypnotischen Auge einer Kammerrock-Hydra.

JG THIRLWELL & SIMON STEENSLAND – virtuosic and heavy as Kammer can rock.

(8,5 Punkte)

 

 

 

https://jgthirlwellsimonsteensland.bandcamp.com/album/oscillospira

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