BoxengassePlattenkritikenPressfrisch

AYREON – Electric Castle Live And Other Tales

~ 2020 (Mascot Label Group / Music Theories) – Stil: Prog Opera ~


2015 verhalf Arjen Anthony Lucassen seinem 2004er AYREON-Werk ´The Human Equation´ zu einer Live-Uraufführung. Die sogenannten „The Theater Equation“ wurden zwar von Lucassen unterstützt, waren aber keine offizielle AYREON-Produktion, obwohl die Veröffentlichung hernach als amtlicher AYREON-Live-Release angepriesen wurde. Im September 2017 organisierte Lucassen seine ersten offiziellen AYREON-Konzerte, das AYREON UNIVERSE, eine Best-Of-Vorstellung mit Songs seiner AYREON- als auch STAR ONE-Alben. Eine Nachfolgeveranstaltung ließ aufgrund des Erfolges nicht lange auf sich erwarten.

 

 

Etwas verspätet zum 20. Jahrestag des 1998er Werkes ´Into The Electric Castle´ führten AYREON vom 13. bis 15. September 2019 dieses Meisterstück in seiner Gänze auf. Eine der vier Vorführungen vor insgesamt über 12.000 Anhängern aus 64 Ländern wurde für die Nachwelt festgehalten.

´Electric Castle Live And Other Tales´ erscheint als Dreifach-Gold-LP, als Do-CD/DVD-Ausgabe, als 5-Disc-Earbook und als Blu-ray im Digipak.

Die auf 1.500 Exemplare limitierte Deluxe-Box enthält in einer versiegelten Holzkiste im LP-Format drei farbige LPs, das Earbook, eine Picture-Disc, Poster, Postkarten, eine Plattenteller-Auflage, sowie ein von Arjen Lucassen signiertes Zertifikat.

 

 

´Into The Electric Castle – A Space Opera´ erschien 1998 als drittes Album von Arjen Lucassen. Es war ein bahnbrechendes Projekt, da es AYREON mit einem Schlag in den Fokus einer breiten Öffentlichkeit rückte und einen Boom an Rockopern auslöste.

Es spielt in demselben Universum wie das Debüt ´The Final Experiment´ und folgt acht unterschiedlichen Persönlichkeiten aus sowie durch Raum und Zeit. Zum Happy End gehen vier von ihnen durch das richtige Tor. In ihrem ursprünglichen Leben zurück, fragen sie sich, ob es nur ein Traum war, doch sie vernehmen wieder diese Stimme und erinnern sich. Sie alle waren Teil eines Experiments, um ihrer Gefühle und Emotionen wieder gewahr zu werden.

 

 

Die meisten Sänger und Sängerinnen der Studioaufnahme waren bei den Live-Auftritten zugegen: Anneke van Giersbergen (THE GENTLE STORM, ex-THE GATHERING, als Ägypterin), Damian Wilson (HEADSPACE, ex-THRESHOLD, als Ritter), Fish (ex-MARILLION, als Highlander), Edward Reekers (ex-KAYAK, als Futureman), Edwin Balogh (TAMAS, als Römer), George Oosthoek (ORPHANAGE, WITHIN TEMPTATION, als der Tod) und John Jaycee Cuijpers (PRAYING MANTIS, als Barbar), ebenso Lucassen selbst in seiner Rolle als Hippie. Die restlichen Charaktere übernahmen Simone Simons (EPICA, als Indianerin), Marcela Bovio (MAYAN, ex-STREAM OF PASSION) sowie Mark Jansen (EPICA, MAYAN, als Tod).

 

 

Hoch oben auf den Schlossgemäuern des Bühnenbildes steht Erzähler John de Lancie („Star Trek: The Next Generation“) und lässt das Abenteuer beginnen. Er begrüßt die acht Personen in der Neuen Dimension und macht deutlich, dass Widerstand zwecklos ist. Bereits das zehnminütige Eröffnungsmonster ´Isis And Osiris´ führt zu zahlreichen Gänsehautmomenten, wenn nacheinander der Hüne Fish, eine verführerische Simone Simons sowie Damian Wilson in Ritterrüstung die Bühne betreten. Der Highlander und der Römer glauben, sich in der Hölle zu befinden. Die Indianerin denkt, auf einer Reise zu sein und der Ritter vor den Toren Avalons zu stehen. Die Saiteninstrumentalisten fangen im Folgenden ebenso wie die Publikumsreihen an, die Köpfe wild zu schütteln. Wenn sich Edwin Balogh und Anneke van Giersbergen im Duett schreiend gegenüber stehen, drohen Schnallen und Knöpfe der Kostüme sich zu lösen. Natürlich vervollständigen auch Flöte, Cello und Geige Bühnenshow und -sound. Oft im Bild: Flitzefinger Joost van den Broek (ex-AFTER FOREVER, der gleichsam als Produzent der gesamten Veranstaltung auftritt) an den Keyboards.

Hippie Lucassen steht dagegen in Flower-Power-Montur erstmals mit John Jaycee Cuijpers bei ´Amazing Flight´ auf der Bühne. Der kämpferisch auftretende Barbar muss in dieser Szene vom Hippie beruhigt werden. Ein großes Gesangstrio steht zu ´Time Beyond Time´ in der Zusammensetzung Edward Reekers, Edwin Balogh und Damian Wilson auf den Brettern. Der Futureman, der Römer und der Ritter sind vom Anblick des „Electric Castle“ verwirrt. Bei ´The Decision Tree´ schwenkt das Publikum nicht nur die Arme mit John Jaycee Cuijpers im Takt, sondern schaut begeistert auf die berstende Instrumentaldarbietung. Weil nur sieben der Abenteurer weitermachen können, rühmen sich der Barbar und der Highlander ihrer Kräfte. Bereits Zugabe verdächtig ist ´Tunnel Of Light´, da beinahe alle Sänger auf der Bühne stehen, oben auf dem Schloss sowie unten vor diesem. Insbesondere die Gesangsvorträge, wenn nicht nur eine oder zwei Charaktere singen, und derer gibt es sehr viele, sind wie geschaffen für eine Bühnenumsetzung. Nicht umsonst ist dies eine Rockoper. Der Highlander verliert jedoch im grellen Lichttunnel jeden Lebenswillen und stirbt.

 

 

Zu ´Across The Rainbow Bridge´ wird sogar im Takt mitgeklatscht. Unser Lieblingshippie steht zwischenzeitlich im Blickpunkt. Der Ritter meint die Brücke auf dem Weg zum Heiligen Gral zu überschreiten, der Hippie eher auf einer bekifften Reise. Die entrückte Stimmung, derweil die Ladies auf den Schlossmauern singen, sprengen die Herren mit ihrem Gesang in ´The Garden Of Emotions´ vor demselben. Alle Reisende erfahren in diesem Garten unterschiedliche Gefühlsregungen. Herzzerreißend ist die Vorstellung von Anneke van Giersbergen in der Ballade ´Valley Of The Queens´. Die Ägypterin mag nicht mehr leben, sondern in das Tal der Könige kehren. Düster, gespenstig und spacig ist der Auftritt von John Jaycee Cuijpers und Damian Wilson im kleinen Headbanger ´The Castle Hall´ gemeinsam mit dem Tod, George Oosthoek und Mark Jansen. Denn alle werden in der Schlosshalle mit den Personen, die sie getötet haben, nochmals konfrontiert. Das wunderbare ´Tower Of Hope´, mit Thijs van Leer (FOCUS) an der Flöte, intoniert Lucassen von den Schlosstürmen herab, zusammen mit Edward Reekers. Die Abenteurer schenken dennoch den ihnen offenbarten Visionen keinen Glauben.

Ehe in ´Cosmic Fusion´ George Oosthoek und Mark Jansen das Todes-Duett schreiend anstimmen, erklingt der wärmende Gesang von Simone Simons sowie der von Edward Reekers. Die Indianerin will mit der Sonne und somit dem gesamten Universum eins werden. Sie entschwebt daher in den Tod. Ein Abbild des himmlischen Geistes schwirrt über der Szenerie. Anschließend erhält ungewöhnlicher Weise Robby Valentine, anhand seiner langjährige Diskografie als QUEEN-/BEATLES-Verehrer bekannt, die Zeit für ein Pianosolo eingeräumt. Passend ist der Beitrag jedoch zum Klangspektrum des folgenden ´The Mirror Maze´, in dem alle Charaktere mit ihrem eigenen Spiegelbild konfrontiert werden. Bei ´Evil Devolution´ steht abermals Edward Reekers im Mittelpunkt. Der Futureman ist entsetzt über einen Blick in die Zukunft und das Verschmelzen von Mensch und Maschine. Im Hardrocker mit Blues-Einschub ´The Two Gates´ zeigen sich nochmals John Jaycee Cuijpers und Edwin Balogh. Die letzten Abenteurer haben nun zwei Tore zur Auswahl, zwischen Heimkehr und dem ewigen Vergessen. Nochmals musikalisch opulent ausgestattet versuchen sich im Finale ´Another Time, Another Space´ die Heimkehrer – der Hippie, der Futureman, Römer und Ritter – zu erinnern. Vergeblich, da diese Erinnerungen in dem Moment ihrer Rückkehr gelöscht werden.

Natürlich erscheint jetzt das gesamte Ensemble auf der Bühne, um sich nach 108 Minuten den verdienten Applaus abzuholen: „Remember Forever…“

 

 

Einen langen Zugabeblock gibt es im „Electric Castle“ selbstredend ebenfalls. Anneke van Giersbergen singt ´Shores Of India´ von Lucassens Projekt THE GENTLE STORM – großes Sinfonic-Metal-Kino mit arabischem Melodieneinschlag. Aus dem AMBEON-Album ´Fate Of A Dreamer´ wird ´Ashes´, gesungen von Simone Simons, zum Besten gegeben. Marcela Bovio singt ´Out In The Real World´ von STREAM OF PASSION, Damian Wilson ´Twisted Coil´ von GUILT MACHINE.

Da Fish einst während der Studioproduktion wenig Zeit hatte, schied seine Rolle in der Geschichte bereits früh aus, doch bei der Live-Vorstellung sollte er unbedingt mehr singen. Alles außer ´Kayleigh´ soll er berechtigterweise Lucassen geantwortet haben. Dieser muss dennoch gute Argumente vorgetragen haben, denn die schottische Legende singt tatsächlich den MARILLION-Evergreen. Schließlich trägt Arjen Lucassen von seinem zweiten Solo-Werk ´Lost In The New Real´ den Song ´Pink Beatles In A Purple Zeppelin´ sowie ´Songs Of The Ocean` von STAR ONE vor. Das gesamte Auditorium singt am Ende mit:

We shape life, we travel space
But we don’t know the words to the songs of the ocean
We survived the ‚human race‘
But we don’t know the words to the songs of the ocean

Fünf Minuten Stan­ding Ova­tions – und nach fast 160 Minuten fällt der Vorhang.

 

 

Ein Traum wurde wahr, für Arjen Lucassen dieses Album auf die Bühne zu bringen und für seine Anhängerschaft diesem Event beizuwohnen.  Ein unvergessliches Erlebnis, das im Heimkino nochmals oder erstmals staunend nachvollzogen werden kann. ´Electric Castle Live And Other Tales´ ist das Zeugnis, dass ein Klassiker an vier Tagen traumhaft zum Leben erweckt werden kann.

 

www.facebook.com/ArjenLucassenOfficial