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MASTER BOOT RECORD – Floppy Disk Overdrive

~ 2020 (Metal Blade) – Stil: Synthwave ~


2020. Eine Pandemie überrollt die gesamte Menschheit und einen Anteil von ihr inmitten ihres glückseligen Lotterlebens. Nicht alle, aber viele sind betroffen. Die Zeit steht förmlich still. In Italien muss jedermann umgehend auf Distanz und in die Abgeschiedenheit gehen. Nichts scheint mehr wie zuvor. Social distancing wird zum Wort des Augenblicks. In Bella Italia singen Menschen von ihren Balkonen. Ein Tag nach dem 19. März 2020, an dem Italien erstmals mehr COVID-19-Todesfälle als China zu verzeichnen hat, erscheint das neuste Werk von MASTER BOOT RECORD.

Die Zeiten haben sich so dermaßen gedreht und gewendet, dass der Synthwave-Master aus Rom erneut eine Label-Liaison eingegangen ist. Nachdem das Independent-Leben kurzfristig durch die Verbindung mit dem Spezialisten-Label „Blood Music“ unterbrochen wurde, hat sich MASTER BOOT RECORD derzeit an „Metal Blade Records“ gebunden. MASTER BOOT RECORD docken bei jenem einmaligen US Metal-Label an und werden sogar auf den „Metal Archives“ gelistet!! Die Welt ist nicht erst durch die Pandemie verrückt geworden. Ein Auftritt von SLAYER bei Karl Moik, Gott hab ihn selig, würde diese Crossover-Aktivitäten krönen.

 

 

März 2020. ´Floppy Disk Overdrive´ wird sanft in den Player geschoben? Nein, schönes Vinyl muss in diesen Tagen zur Veröffentlichung herhalten und sich auf dem Plattenteller drehen. Und schön sollte der Genuss werden, denn eine Kehrtwende um 180 Grad innerhalb seiner musikalischen Ausdrucksform durfte von MASTER BOOT RECORD nicht erwartet werden, viel zu nachhaltig und extravagant, viel zu Szene-prägend waren seine bisherigen, zahlreichen Veröffentlichungen (siehe hier). Derweil Musiker monatelang auf die Möglichkeit warten, wieder live, vor Publikum auftreten zu können, da Streaming via Internet nicht dieselben Emotionen transportiert und kein Geld in die Portokasse spült, ist der genossene Konsum vor der heimischen Anlage die höchste Glückseligkeit.

´ANSI.SYS´ befriedigt sofort jegliche Ansprüche an die Musik des Ein-Mann-Projekts MASTER BOOT RECORD: ein Breitwandkosmos, ähnlich einer Darbietung in der Kathedrale, dazu schnelle Tastenfolgen aus den Skelett-Händen des Turmwächters, sowie pumpende und röhrende Synth-Schauplätze. Dem stellt sich ´CHKDSK.EXE´, mit seinem sentimentalen Achtzigerjahre-Break und Orgel-Finale, anheim. Nach einer kurzen, akustisch-geprägten Einstimmung gibt ´EDIT.COM´ Dauerfeuer, werden die Finger selbst für den Bruchteil einer Sekunde nicht gehoben. Dennoch halten sentimentale Momente über die Distanz von acht Minuten Einzug. Erst recht im epischen Mitternachtsrausch von ´RAMDRIVE.SYS´, selbst wenn dieser ebenfalls nur acht Minuten anhält. Ein ´FDISK.EXE´ gibt zwischen dem anhaltenden Artilleriefeuer auch wunderbar dickflüssige Melodienfolgen und ein keineswegs nonchalant hämmerndes ´DISPLAY.SYS´ wehende Synthflächen preis. Der Traum von „I am a 486DX-33MHz-64MB processing avant-garde chiptune, synthesized heavy metal & classical symphonic music. 100% Synthesized, 100% Dehumanized.“ ist für MASTER BOOT RECORD auch mit ´EMM386.EXE´ und ´HIMEM.SYS´ längst nicht ausgeträumt.

April 2020. MASTER BOOT RECORD schiebt sich erneut an die Szenen-Spitze. Schließt die Fenster, gönnt Euch social distancing und hört ´Floppy Disk Overdrive´. Aber nicht, dass bei aller Euphorie und körperlichem Ausrasten der Rückzugs- und Zufluchtsort zu Bruch geht.

(8,5 Punkte)

https://masterbootrecord.bandcamp.com/album/floppy-disk-overdrive

https://www.facebook.com/masterbootrecordmusic