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MIDNIGHT SUN – Dark Tide Rising

~ 2019 (Sonicbond Music Ltd) – Progressive Rock / Metal ~


Was würde wohl passieren, wenn Mark Hollis noch unter uns weilen, sich die von vielen komplett unterschätzte Band TALK TALK in ein himmlisches Proggewand kleiden und sich mit fettem Metallriffing und metallisch glänzenden Drums präsentieren würde? Nun, dann führte dies wohl zwangsweise zu einem weiteren Begeisterungsausbruch nach diesem feuchten Traum im Hause Lessmeister.

Danke, ihr lieben Britannier, dass ihr diesen unbewusst in mir keimenden, geheimen Wunsch bereits umgesetzt habt, bevor ich weiter darüber fantasieren konnte. Da hilft kein Sezieren einzelner Songs, kein Hervorheben wunderschöner, flehender Gesangslinien, kein Schwelgen in herrlichen Keyboardsounds, keine Prüfung bangkompatibler Rhythmen, keine Tränen im Auge ob längst vergessen geglaubter ASIA-Reminiszenzen, keine Vergleiche zu THRESHOLD-Dramaturgie, kein Nachdenken über geliebte IQ-Platten. Einzig und allein das Aufsuchen der stereofonen Mitte des heimischen Rückzugsortes bei tagesformabhängiger Wohlfühllautstärke wird den vollen Zauber dieser unbeschreiblich fesselnden Scheibe entfalten. Audiophiles Schweben in anderen Sphären ohne zwanghaften Pilzkonsum ist angesagt – nein, Kaia, auch dich brauche ich diesmal nicht.

Wer speziell auf diesen wunderschönen, emotionalen Gesang von Huw Lloyd-Jones steht, sollte seinen John Wetton und Mark Hollis Platten auch gleich noch die ´Witness For The World´ der Iren CRY BEFORE DAWN aus dem Jahre 1989 hinzufügen, denn ihr Brendan Wade könnte stimmlich exakt der Brother from another Mother sein und seine Combo die softe Schwester von MIDNIGHT SUN.

Macht mal selbst, zieht euch das Jahrhundertstück ´Early Warning´ oder das sich nach Prügelanfang dramaturgisch spannend entwickelnde, schwebende ´Control´ und danach das Gesamtwerk rein, sagt mir, ich hätte euch nicht gewarnt und schickt mir eure Punktebewertung als Blumen, damit meine Trüffelschwein-Nase in diesem farbenfrohen Meer ertrinken kann. Ich schließe mich bis dahin mit ´Dark Tide Rising´ ein und werfe den Schlüssel weg. Was für ein Debüt! Das Jahr des High-End-Prog geht weiter.

Less Leßmeister

 

 

Anfang der Siebzigerjahre existierte eine dänische Progressive Rock-Formation namens MIDNIGHT SUN deren Artworks von keinem geringeren als Roger Dean gestaltet wurden. In den Neunzigerjahren gab es eine schwedische Hard & Heavy-Kapelle gleichen Namens und jetzt mögen die hilflosen Brexit-Briten den heiligen Gral gefunden haben. Eine UK-Band aus dem derzeit verrückten Inselreich nennt sich in diesen Tagen ebenfalls MIDNIGHT SUN und versucht sich an einer Mischung aus eben diesem Prog Rock und jenem Heavy Metal, präzisier aus Neo Prog und Prog Metal.

MIDNIGHT SUN bringen alle Grundvoraussetzungen für ein progressives Werk mit. Sänger Huw Lloyd-Jones und Keyboarder Ian Hodson standen einst in den Reihen der Neo Progger ALSO EDEN. Zusammen mit den Gitarristen Andy Gelband und Ben Swanwick, sowie Schlagzeuger Chris Habicht und Bassist Sean Spear (GREY LADY DOWN), sind sie nun als MIDNIGHT SUN aktiv. Zudem kratzt nur einer von sechs Songs nicht an der Marke zu sieben und neun Minuten. Da schon der Albumtitel eine trübe Stimmung andeutet, breiten die Kompositionen selbstverständlich Themen von Schmerz und Verlust aus, sei es auf privater und persönlicher oder gesellschaftlicher und politischer Ebene.

Der Opener ´Scheherazade´ erinnert in seiner Darbietung sofort an THRESHOLD, ein ´Early Warning´ vielmehr an VANDEN PLAS. Während ersterer gewiss noch mit ordentlichen Chorgesängen punkten kann, setzt der schlichte Neo Prog-Refrain dem progmetallischen Riffing nicht die erhoffte Krone auf. Bei der anderen Komposition zieht es den Gesang zum heavy Riff in die Höhe. Doch wenn es gerade erstklassig werden soll, agiert Huw Lloyd-Jones nicht gerade auf sicheren Bahnen. Zu ´Clouds´ zündet die Band erst spät den Motor und bewegt sich dabei in Sphären von PALLAS. ´Delirium´ versucht erfolglos in die Fußstapfen von GREY LADY DOWN zu treten und ´Broken Angels´ gedenkt frühen MARILLION-Tagen, ehe der Prog Metal zeitweise Einzug hält.

Mit allen aufs Tapet gebrachten Formationen können MIDNIGHT SUN ganz und gar nicht mithalten. Da sollte sich das traditionell hochwertig ausgestattete Haus Leßmeister echten High-End-Produkten widmen. Die vollzogene Mischung aus Neo Prog und Prog Metal ist grundsätzlich geglückt, obwohl sie nicht besonders neuwertig ist. Die Anfänge von THRESHOLD verliefen vor bald dreißig Jahren ähnlich, aber erfolgreicher. Ein Mix aus Siebziger- und Neunzigerjahren ist nicht spektakulär, der dargebotene aus Achtziger- und Neunzigerjahren noch weniger. Vielleicht könnte ein Cocktail mit den 10er Jahren explosiver gestaltet werden. Selbst dann hätte das Songmaterial jedoch erst einmal über die gepflegte Reizlosigkeit hinausgehen müssen, denn dieses verpufft bereits bevor es die Sonne gesehen hat.

(6 Punkte)

Michael Haifl

https://www.facebook.com/midnightsunprog/