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DAGOBERT – Welt ohne Zeit

~ 2019 (Staatsakt) – Stil: Pop ~


Er scheint ein Einzelgänger zu sein. Er ist einfach ein Individualist. Er ist ein Außenseiter. Und die dritte Langspielplatte des Sangesbarden DAGOBERT lässt sein Alter Ego noch einzigartiger erscheinen. Seine Ironie ist vermeintlich verflogen, die Anzüge nicht. Es kann nur einen Dandy der deutschen Populärmusik, die keiner kennt, geben. Die Einengung auf eine einzige, stilistische Ebene ist dem gebürtigen Schweizer dagegen bis heute zuwider. Eine Reduzierung auf Schlager, Pop, Rock, Singer-/Songwriter kratzt nur an der Oberfläche. Er, bürgerlich Lukas Jäger, ist und bleibt DAGOBERT.

´Welt ohne Zeit´ ist keine Abrechnung mit dem Zeitgeist – über eine Welt, die keine Zeit hat oder keine Zeit kennt. Es ist ein mit Liebesbotschaften gespicktes Werk. Jeder Songtext ist in Wahrheit eine Botschaft an DAGOBERTs eigenes Ich, jeder Text ist in Briefform eine Abbitte oder ein Hilferuf an seine verflossenen Liebschaften, ein Gedicht an seine verlorene Seele, verloren an die einzige Frau seines Lebens. Und allein um der Tragweite seiner Worte die ihnen gebührende Aufmerksamkeit zu schenken, ist der spöttische Unterton vordergründig verschwunden.

Ohne Hintergedanken entstanden intuitiv zehn musikalische Ablassgedanken, die sich nicht dem augenzwinkernden Schlager-Pop des Debüts oder der Großproduktion des Nachfolgers (siehe hier) anschließen. Jede angedachte Gleichschaltung wäre unzureichend, selbst wenn die Gedanken beim New Wave, Brit Pop oder der NDW hängen bleiben, bei späten COLDPLAY und sehr späten BLUMFELD Ansätze finden könnten, DAGOBERT ist DAGOBERT. Er greift nach den Sternen von Leonard Cohen, Robert James Smith und Falco.

Das liebestolle Epos für einsame Menschen ´Welt ohne Zeit´ spielt mit Akustik- und E-Gitarren, mit Synthesizern aus den Achtzigern, und fügt sich der Herrschaft von DAGOBERT. Gleichschöne Songs werden von ´Du Und Ich´ und dem mit Disco-Beats und fetten E-Gitarren auf Hit getrimmten ´Flashbacks´ übertroffen. Die Natürlichkeit der Kompositionen untermauert im Letztgenannten der Backgroundgesang des Berliner Kneipenchors. Liang Wang ist die Dame, die den weiblichen Part aus dem Off in ´Flieg mit mir´ und ´Einsam´ gibt.

Im Berlin sinnierend, könnte der Ausfluss aller Gedanken DAGOBERTs wie einst im Haus des Großvaters seines Schwagers in einem Schweizer Bergdorf entstanden sein (siehe auch unser Interview mit DAGOBERT über das Thema KREATOR oder SCORPIONS). Tatsächlich wurden die Songideen gemeinsam mit seinem Live-Gitarristen Max Zahl und dem Musiker/Produzenten Konrad Betcher an einem See irgendwo in Brandenburg formvollendet. Bitteren Tagebucheinträgen gleich wohnen allen eine Niedergeschlagenheit inne. Der Geist aller bisherigen Liebschaften und der großen einen Liebe schwebt über diesen, führt uns zurück in das Jahr 2004 als DAGOBERT seine Auferweckung erfuhr. Seine erste große Liebe? Angeblich eine spirituelle Begegnung mit Audrey Hepburn. Der Schalk sitzt ihm also weiterhin im Nacken. Vielmehr schwänzelt wohl der Geist einer alten Freundin über seinem Leben. Er ruft ihr zu, sie wäre ebenso wie er allein. In Wahrheit kann er einfach nicht von dieser großen Liebe lassen (´Der Geist´). Er kann es nicht verkraften, dass sie einen neuen Freund hat. Die Welt solle umgehend neu erschaffen werden, falls sie nicht zueinander finden. Für formal sinnlos erklärt er diese Situation (´Du Und Ich´). Ein echter Sturkopf mit Leib und Seele dieser DAGOBERT. Nur einmal schließt er scheinbar mit der Vergangenheit ab. Endlich lässt er Worten Taten folgen und verschwindet aus ihrem Leben, denkt sich der Hörer beim Genuss des Liedes, nachts um vier Uhr (´Uns gehört die Vergangenheit´).

Redet DAGOBERT über die Probleme der Menschheit, könnte es sich bereits wieder um ein Andichten der mutmaßlichen Angelegenheiten seiner Ex handeln (´In all unseren Leben´). Denn immer und immer wieder kommen die Erinnerungen in ihm hoch, er rührt weiter und weiter in den Geschichten nicht erwiderter Liebschaften (´Flashbacks´). Bloß den Namen seiner kleinen Winter-Affäre erfahren wir (´Anna´), dazu schleichen sich widerstrebend orientalische Melodien in die Tonaufwartungen hinein. Letzten Endes zählt nur die einzige und wahre Liebe – und die weiß angeblich immer noch nicht, was sie will, meint zumindest DAGOBERT. Seine Hoffnung will einfach nicht sterben. Er ist ein alter Mann im Kostüm eines jungen Mannes, der ihr sogar sagt, dass sie nicht wisse, was er weiß (´Ich weiss nicht was du willst´). Sensationell stellt er in den Raum, dass sie einsam wäre, denn er negiert seine Gefühle, indem er das Wort „einsam“ von einer Frau singen lässt (´Einsam´). Schließlich will er sich am liebsten ihres Körpers bemächtigen, denn sie gehören einfach zusammen und müssen sich lieben (´Welt ohne Zeit´) – in der Unendlichkeit des Seins.

Es macht einfach keinen Sinn, wenn wir nicht alle zu DAGOBERT finden. Schmerz und Liebe werden eins. Wie in der gesamten Menschheitsgeschichte: Die größten Kompositionen werden von jeher aus dem Schmerz, aus dem Liebeskummer geboren – in einer Welt mit oder ohne Zeit.

(9 Punkte)