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HERBERT GRÖNEMEYER – Tumult

~ 2018 (Vertigo/Universal) – Stil: Deutsch Pop ~


Vorhang auf: Alle werbenden Aktionen, in Film, Funk und Fernsehen, stellen zur Vorstellung des 15. Albums von Herbert Grönemeyer seine politische Haltung in den Mittelpunkt. Die Promotionsmaschinerie läuft in dieser Richtung dermaßen heiß, als würde eine Castingshow die nächste Bundeskanzlerin suchen. Grönemeyer for Chancellor. Derweil Herbert Grönemeyer selbst seine Geisteshaltung auf ´Tumult´ weitaus subtiler vertritt. Seine Werke besaßen bekanntlich schon immer politische Standpunkte und Songs, die die Dinge direkter ansprachen als aktuell. Zweifellos schimmert in vielen Songs eine gesellschaftspolitische Bestandsaufnahme durch, denn Grönemeyer ist selbstredend kein Musiker, der sich auf die großen Bühnen stellt und sich selbst als unpolitisch bezeichnen würde.

1.. 2.. 1.. 2.. 3.. 4.. Musik: Der Kurs der vergangenen Alben ´Schiffsverkehr´ (2011) und ´Dauernd jetzt´ (2014) wird 2018 nicht besonders verändert vorangetrieben. Der 62-jährige folgt den eingeschlagenen Pfaden, die mit zeitgemäßer Rhythmik und Produktion mehr als zuvor die 80er und 90er Jahre hinter sich lassen. Den Takt scheint im ´Sekundenglück´ dennoch die Schreibmaschine zu schlagen. Ein besonnener, aber charakteristischer Grönemeyer-Song, der erst mit vollem Bass-Einsatz explodiert und von den wunderbaren Momenten des Menschseins handelt. Der Synth-Pop-Song ´Bist Du da´ entwickelt sich auf dem ersten Vinyl-Scheibchen zu einer Hymne, die geradezu nach Live-Aufführungen ruft, und einem der musikalischen Höhepunkte.

Das Äquivalent zu 1984, als zum Mambo die Motoren trommelten und in den Ohren dröhnten, ist ´Taufrisch´ der Spaßmacher zur Klimakatastrophe – ein Gassenhauer nicht nur für Teenager. So auch ´Doppelherz – Iki Gönlüm´, über die Sehnsucht nach der zweiten Heimat, in dem der Bochumer den türkischstämmigen Rapper BRKN einbindet und sogar selbst türkisch singt. Orientalischer Deutsch Pop. Vielfalt statt Einfalt. Der ´Fall der Fälle´ („Es bräunt die Wut, es dünkelt, der kleine Mob macht rein“) spricht schließlich die „Gefaaaaaahr“ in der Gesellschaft buchstäblich an („Kein Millimeter nach rechts, einfach mitten rein“) und bohrt sich ins Kleinhirn. Selbst in der flotten Lebensreise über ´Leichtsinn und Liebe´ bleiben kritische Worte nicht aus („Hasardeure haben grade einen Lauf“). Die Nachdenklichkeit des Menschen Grönemeyer bleibt darüber in Songs wie ´Mein Lebensstrahlen´ oder dem Singer-Songwriter-Song ´Warum´ allgegenwärtig.

Auf dem zweiten Vinyl schwächelt ´Verwandt´, trotz modernem Beat und einer Prise CLOWNS & HELDEN. Das sentimentale ´Wartezimmer der Welt´ ist hingegen auch kein Songtitel von ELEMENT OF CRIME. Wenigstens beendet ´Lebe mit mir los´ die länger andauernde Tristesse. Da fesselt die vierte Vinyl-Seite allemal mehr. Obwohl sich hier nur drei Bonussongs verewigt haben, sollten sie aufgrund ihrer Qualität mit der Vorderseite die Plätze tauschen. ´Seid ihr noch da?´ taut zu nostalgischen Keyboard-Klängen im klassischen Pop-Song auf und ´La Bonifica´ thematisiert mit Hoffnung eingeschleuste Frauen, die in der Zwangsprostitution enden. Das Finale spricht uns ´Mut´ zu. Eine Bilanz zur Entschleunigung der dahinrasenden Zeit, in der sich jeder nur nach einem Heim und einer Heimat sehnt („Es gibt kein Süd, es gibt kein Nord, es gibt kein West, kein Osten“).

Sofern Herbert Grönemeyer nicht in Zukunft Aufmerksamkeit heischend Jury-Mitglied werden will, bleiben ihm noch bis zur Vollendung des 70. Lebensjahres gute acht Jahre, um in das Amt eines Schöffen einberufen zu werden, Bundespräsident ist ab dem vollendeten 40. Lebensjahr möglich. Seine Geisteshaltung und seine lyrischen Ausführungen beweisen bereits heute Rückgrat und geben der Allgemeinheit sowie der Gemeinschaft Beistand und Stütze.

Vorhang fällt – längst nicht.

(8 Punkte)