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SIGH – Heir To Despair

~ 2018 (Candlelight/Spinefarm Records) – Stil: Trüffelsucher-Metal ~


Es gibt Platten, die sind zu groß für einen Menschen allein, und auf diese heir, ähh, hier trifft das mit Sicherheit zu. SIGH gehören zu den Gruppen, die niemals auch nur im entferntesten über Genreschubladen nachgedacht haben, obwohl sie sich schon immer (Sänger-)Schützenhilfe aus allen Ecken der Metalwelt geholt haben. Und stilerweiternd bedienen tun sie sich ebenfalls gewohnheitsgemäß überall, sie haben 1990 als Black-/Thrash-Band à la VENOM begonnen, sich im Dunstkreis von Euronymus dem Zweite-Welle-BM angenähert und dabei frischen symphonischen Wind nach Norwegen gebracht, aber auch dieses Korsett schnell gesprengt, sich Jazz, Klassik, Filmmusik und schliesslich noch Psychedelica einverleibt, spielen jedoch immer unverkenn- wie unverwechselbaren Metal. Eine Band, die schon immer gespalten hat – in lieben oder gar nix mit ihnen anfangen können; exzentrisch, avantgardistisch, larger than life. Keyboards – ok, aber Querflöte und Saxophon im (Black) Metal? Und nun haben sie sich schliesslich auf ihre japanischen Wurzeln besonnen, singen in ihrer Muttersprache und integrieren fernöstliche Folklore – wie bereits angedeutet, much too much für mich allein.

„Na und?“, wird der treue Streetclip-Leser nun einwerfen, „dann macht doch einfach wieder so ein Rudelreview, seid ihr ja mittlerweile berühmt & berüchtigt dafür!“. Ich befürchte nur, in diesem Fall will keiner der Herren mitziehen…also habe ich den Spieß jetzt einfach mal umgedreht.

Ich bin nun seit anderthalb Jahren in diesem Trüffelsucherverein dabei, allerhöchste Zeit also, sich einmal meinen werten Kollegen und ihren persönlichen Vorlieben zu widmen! Und auch wenn Weihnachten noch eine ganze Ecke entfernt ist, bekommt nun jeder seinen ganz persönlichen, abgedrehten „Seufzer“ als Betthupferl zugedacht…viel Spaß und wohl bekomm’s!

(Und falls sich jemand verkannt fühlen sollte, alle Beschwerden bitte wie üblich direkt an den Herrn Chefredakteur adressieren )

 

Gleich geht’s auch schon los mit ’Aletheia’, gewidmet unserem Tanzbär Markus gps! Offen für fremde Kulturen und filigrane Instrumentalkunst sollte er bei diesem sehr querflöten-, keyboardeffekt- und folklastigen Zucker-stückchen Musik gleich einen selbigen in den Füßen spüren. Die Vocoderstimme und die langen, repetitiven, aber immer wieder ins frei improvisierende ausbrechenden Gitarrenläufe mit Klassikeinschlag laufen dem Proggie rein wie feinster fränkischer Rotwein, da bin ich mir doch ziemlich sicher. Ein feiner Aperitiv, gelle?

Und was könnte es dann anderes sein als ein (ok, so ziemlich…) klassischer Thrasher für Jürgen? Er hatte mich damals angeheuert, also beschwert euch bei ihm, wenn ich euch mal wieder auf die Nerven gehe 😉 …’Homo Homini Lupus’  ist sein Song! Fast zu normal für die durchgeknallten Japaner, bringt er ganz schön Drive auf die Bretter und zeigt die genial-dynamische Gitarrenarbeit zwischen fettem Riff und klassischem Solo, abgeschmeckt mit einem ordentlichen Schuss Kinosoundtrack. Auch die von Ju hochgeschätzen Landsleute LOUDNESS haben ähnliche Geschwindigkeiten und japanischen Gesang zu Beginn ihrer Karriere gebracht, und ja, die tiefen Vocals werden hier von einem gewissen Herrn Anselmo beigesteuert, mit dem Bandkopf Mirai Kawashima bei ENOCH zusammengearbeitet hat. That’s Metal!

 

 

Über unseren letzten Zugang Johannes weiss ich bislang recht wenig, doch seine stets sehr knackigen, auf den Punkt gebrachten Reviews sagen einiges über seinen Musikgeschmack aus. Er bringt eine breite Fachkenntnis in den extremen, fiesen, dreckigen, ja auch grindigen Abgründen mit, die sich hinter Death-, Black-, Doom- und Sludge Metal auftun, gerne darf’s bei ihm auch eine Schippe Hardcore und Punk sein. Die gekotzte Stimme und die dreckigen Gitten von ’Hunters Not Horned’ sollten ihm also gefallen, was er jedoch zu einer Querflöte sagt, die gleich zu Beginn ein SLAYER-Riff begrüßt, weiss ich nicht wirklich, es grüsst jedoch freudig: Mike Patton. Das hier ist Thrash mit anderen, “abgepfiffenen” Mitteln, fast schon symphonisch mit einem grossen Spannungsbogen und viel Atmosphäre am Ende – ich hoffe, es mundet!

Jetzt wird’s so richtig krass. Ozzy bellt einen fernöstlichen Papiermond an? Ein Dämon auf Speed keift gegen folkloristische Chöre? Ein Shamisen-Maestro entlockt immer wieder zwischendrin der Langhalslaute orientalische, aber ordentlich gehärtete Klänge? NWoBHM-Soli werden rhythmisch ausgebremst und angefrickelt getuned, und das alles in Highspeed? ’In Memories Delusional’ ist ganz klar ein Fall für unser wandelndes Musiklexikon und Chefredakteur Michael! Nur er kann solche vielschichtigen Klanggebilde lyrisch auseinanderdröseln und dem einfachen Metalvolk näherbringen. Und in diesen Song haben SIGH wirklich alles gepackt – schwere Riffs plus ausladende klassische Soli, x verschiedene Referenzen in den diversen Liedbausteinen, Dissonanz wie Harmonie, gegenläufige Rhythmik und am Ende wird es regelrecht orchestral – Grande! Chefmaterial eben…

Szenen- und Tempiwechsel, Chillmodus on. Der erste Teil der ’Heresy’-Trilogie, ’Oblivium’, hat zwar mit Doom ausser der runtergedrehten Geschwindigkeit rein gar nichts zu tun, aber Sir Lord D. wird es mir hoffentlich verzeihen – ist hier doch auch eine gehörige Packung stark verhallte Psychedelika mitverbacken und die barocken Flötenklänge erinnern an den Artrock der Sixties/Seventies. Noch stranger wird es in den beiden kurzen Anschlussteilen, extrem verzerrte Film-Versatzstücke wie aus der ’Hail Horror Hail’-Phase, wirklich nur etwas für Spezialisten, doch in dem Gesamtzusammenhang absolut stimmig. Denn diese Platte schafft es, komplett eigenständig einfach ALLES absolut hörbar miteinander zu verbinden, und genau das nenne ich SIGHs grosse Klasse! Da spielen sie mit MASTER’S HAMMER in ihrer ganz eigenen Liga…

Doch Obacht, hier kommt wieder eine ganz andere Stilrichtung: zugleich episch, progressiv, klassisch und – in der Zeit zurückgewandt (seht ihr, wie ich verzweifelt versuche, das böse Rrrrrrr-Wort zu vermeiden…?). Highspeed, Crossover, Groove und sophisticated Riffing, aufgelöst in einem traumtänzerischen Beat und garniert mit einer geradezu Tobolsky’schen Flöte; WUCAN-Kraut meets Power-Metal – wer könnte sich in ’Hands Of The String Puller’ besser wiederfinden als Ludwig? Auch hier wird wieder ausgiebig soliert, der Dialog zwischen Gitarren und Flöte fasziniert, doch man kommt professionell auf den Punkt und nach nicht einmal 3 Sätzen, ähh, fünf Minuten ist schon wieder alles vorbei, und es geht übergangslos in den überlangen Abschlussong.

Und dieser geht an…??? Ja, wen wohl? Einer fehlt noch in der Runde, und es ist natürlich mein Lieblingskollege mit dem schier unendlich weiten musikalischen Horizont und grossen Herz für alle, die Musik mit Begeisterung und Herzblut machen (und geniessen!)… Less muss der Titelsong gehören, denn – keiner ist länger 😉
’Heir To Despair’ bietet auf über zehn Minuten ein Breitwand-CARACH ANGREN-Soundtrack-Gedächtnishörspiel inklusive operettenhaftem Seemannsgarn und Gespensterheulen, massiv Neo-Proggiger Atmosphäre, und ist gleichzeitig das Stück mit dem grössten Schwarze-Seelen-Anteil auf dieser Scheibe. Ein klarer Fall für Scheuklappenverächter und ein mehr als würdiger Abschluss einer der exotischsten und vielschichtigsten Scheiben diesen Jahres! ありがとう!

 

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Jungs, Ihr habt mein Leben absolut bereichert! Mit Eurem riesigen Hintergrundwissen, Eurer Leidenschaft für diese unsere Musik, Eurer fundierten Kritik und Aufmunterung, den manchmal sehr kontroversen Diskussionen und vor allem den unendlich witzigen Rudelchats! Und natürlich nicht zu vergessen der Rundumbedienung bei diversen Festivals … daher musste es jetzt mal ein als Review verkleideter Liebesbrief an Euch sein – SIGH mögen es mir verzeihen. Denn für sie und ihre vierte Platte im dritten Zyklus fällt schliesslich auch noch was nettes ab: nämlich

9 ganz fette Punkte!

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