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ANNA CALVI – Hunter

~ 2018 (Domino/GoodToGo) – Stil: Rock ~


Vermehrt brechen Frauen die Männerdominanz im Rock und die bloße Zurschaustellung weiblicher Genossinnen im Musikgewerbe auf. Neben der US-Amerikanerin St. Vincent oder der Australierin Courtney Barnett ist es aktuell Anna Calvi, die aus dem Indie-Gitarrenpop ihrer ersten beiden Werke eine New Wave der Kunst und des Rock zelebriert, ihre Show zur Albumvorstellung im Berliner Berghain zeugte bereits von dieser neuen Effizienz.

Wer die öffentliche Meinungspflege verfolgt, erwartet aufgrund dieser – „Anna Calvi ist die Zukunft der Gitarrenmusik.“ (Die Welt) – oder jener Aussagen – „Man vergisst kurz, wer Jimi Hendrix war.“ (Spiegel.de) – ein neues Gitarrenwunderkind. ´Hunter´ veranschaulicht jedoch das Gegenteil. Zwar zählen die Namen Jimi Hendrix, Django Reinhardt, Elvis Presley sowie Edith Piaf und Maria Callas zu ihren Heroen, dennoch hat es Anna Calvi nicht nötig, ihr Gitarrenspiel in den Vordergrund und ihre mehrere Oktaven umfassende Stimme zur Schau zu stellen.

Vielmehr wurde ´Hunter´ in einer Selbstfindungsphase von Anna Calvi komponiert. 2013 soll sie mit dem Model Freja Beha Erichsen liiert gewesen sein, doch erst mit ihrem Umzug nach Frankreich wurde die Liebesbeziehung zu ihrer aktuellen Freundin erstmals öffentlich. Immer wieder begegnen wir den Auseinandersetzungen mit ihrem eigenen Körper („If I was a man in all but my body“) und ihrer Sexualität, jedem soll die Queerness ihrer Musik bewusst werden („Don’t beat the girl out of my boy“). Calvi ist auf der Jagd, sie will nicht mehr die Gejagte sein. Ihre Botschaft, ihr Manifest hat sie diesbezüglich verkündet (siehe unten). Gemeinsam mit Martyn Casey am Bass (BAD SEEDS), Adrian Utley an den Keyboards (PORTISHEAD), Alex Thomas und Mally Harpaz am Schlagzeug sowie Nick Caves Produzent Nick Launay kommt sie ihren Vorstellungen einen großen Schritt näher.

Finger schnippend wischen wir die Vergangenheit in den Papierkorb der Geschichte, Anna Calvi benötigt in minimalistischer Ausführung allein einen pulsierenden Bass sowie knallige Schlagzeugstöcke, um ´As A Man´ hitverdächtig zu zelebrieren. Wir schnippen erneut in ´Alpha´ mit Daumen und Mittelfinger zur ersten Proklamation: „Alpha Female“. Dunkle Fröhlichkeit untermalt das Leitthema ´Don’t Beat The Girl Out Of My Boy´ – und die Gitarre suhlt sich keineswegs im Mittelpunkt. Gehetzte Leidenschaft steht ´Indies Or Paradise´ dermaßen gut zu Gesicht, dass sich tatsächlich nicht die Gitarre, sondern die Stimme von Calvi als Attraktion von ´Hunter´ erweist. In vollem Glanze strahlt der Gesang klassisch in ´Swimming Pool´ und aus der Beengung heraus in ´Away´. Popmystik der ebenso gespaltenen Persönlichkeit David Bowie ergießt sich im transzendenten Beisein von Mark Hollis in ´Hunter´. Dennoch verfallen auch experimentellere Songs wie ´Chain´ und ´Wish´ nicht der vermeidlich vielgepriesen, brotlosen Kunst, künstlerischer Anspruch und Rock ist nicht sogleich Artrock.

Bedauerlicherweise gelingt es Anna Calvi nicht, die ihr zustehende Größe zu legitimieren, und durchgehend, ihrem Anspruch gerecht zu werden. Eines wird jedoch jedem klar – 2018 darf es keine Rollenspiele mehr geben: „I’ll be the boy, you’ll be the girl, I’ll be the girl, you’ll be the boy, I’ll be the girl“.

(8 Punkte)

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I’m hunting for something – I want experiences, I want agency, I want sexual freedom, I want intimacy, I want to feel strong, I want to feel protected and I want to find something beautiful in all the mess.
I want to go beyond gender. I don’t want to have to chose between the male and female in me.
I’m fighting against feeling an outsider and trying to find a place that feels like home.

I believe that gender is a spectrum. I believe that if we were allowed to be somewhere in the middle, not pushed to the extremes of performed masculinity and femininity, we would all be more free. I want to explore how to be something other than just what I’ve been assigned to be. I want to explore a more subversive sexuality, which goes further than what is expected of a woman in our patriarchal heteronormative society. I want to repeat the words “girl boy, woman man“, over and over, to find the limits of these words, against vastness of human experience.

I believe in the female protagonist, who isn’t simply responding to a man’s story. I go out into the world and see it as mine – I want something from it, rather than just being a passive product of it. I’m hungry for experiences. Sometimes things seem clear, and other times I feel lost. I feel strong and yet vulnerable; I wear my body and my art as an armour, but I also know that to be true to myself is to be open to being hurt.
The intent of this record is to be primal and beautiful, vulnerable and strong, to be the hunter and the hunted.

– Anna

(http://annacalvi.com/manifesto.html)

 


(VÖ: 31.8.2018)