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SEAR BLISS – Letters From The Edge

2018 (Hammerheart Records) – Stil: Metal with Horns!


“With Horns“, soso. Teufelshörnchen, Maloik, Pommesgabel, oder was? Soll das etwa witzig sein? Und was soll uns diese Genrebezeichnung nun bitte sagen?

Leute, jetzt mal nicht so voreingenommen! Wenn eine Band solch eine genial-ironische, ihren einzigartigen, von musikalischen Normen völlig unabhängigen Stil perfekt umschreibende Bezeichnung findet, übernehme ich sie gerne. „Horns“ stehen hier für Blechblasinstrumente, früher Trompete, heute Posaune. Und ihr solltet einfach mal ein Ohr riskieren, auch wenn ihr mit solchem Gebläse bisher nur Jazz, Klassik, oder – „noch schlimmer“ – Volksmusik verbindet.

SEAR BLISS aus dem westungarischen Szombathely existieren bereits seit 1993, und was soll ich lang drum herumreden, bisher sind sie komplett unter meinem Radar geflogen. Vielleicht aber auch gar nicht schlimm, denn ich wage mal zu behaupten dass wir mit dem achten Studioalbum die Band auf dem Höhepunkt ihrer Kreativität und Schaffenskraft erleben dürfen – um uns den Backkatalog anschließend genüsslich zu Gemüte zuführen. Auf der Basis schwarzmetallischer Ästhetik serviert das Quintett eine ganz eigenständig-experimentelle Dark Rock/Gothic Metal-Geschmacksrichtung mit scheinbar unendlich vielen Facetten, die wie in einem Kaleidoskop ständig neue Variationen an Dynamik, Harmonie, Härte und Schönheit erleben lassen. Gut, was forsche Blastbeats, solide Tremolopickings und eine gepflegt-raue Stimme betrifft, sollte der werte Hörer nicht allzu empfindlich sein (’Forbidden Doors’, ’Leaving Forever Land’), aber wer mächtige, symphonische Gesangs- und Keyboardpassagen zwischen komplex miteinander verwobenen Saitenklangschichten liebt, bekommt hier als Sahnehäubchen noch die majestätische Posaune dazu, die mit ihrem prunkvollen, ja sakralen Klang (Hört nur den Anfang sowie Fummelteil des genialen Dark/Death Metal-Gassenhauers ’Seven Springs’, den auch ARCTURUS oder MOONSPELL nicht besser hinbekommen hätten) das Instrumentarium der Ungarn perfekt ergänzt. Aber bitte nicht missverstehen: die Trombone ist hier eine vollwertige, eigene Stimme, die im vielschichtigen Dialog von Gitarren, Bass und Keyboards „Riffs“ und Melodielinien variiert und dabei immer wieder die Hauptrolle spielt (’A Mirror In The Forest’ mit wohligem DARK FORTRESS-Stallgeruch, das erhabene ´The Main Divide’ mit ROTTING CHRIST-Intro) und eben ihren ureigenen, ganz speziellen Twist mit hineinbringt.

Hörbar aufeinander eingespielte Könner an ihren Instrumenten und erfahrene Songwriter, allen voran Bandleader, Sänger und Bassist/Keyboarder András Nagy, erzählen mit ihren anspruchsvollen, labyrinthischen Stücken düster-melancholische Geschichten über das menschliche Drama wie anno dazumal DEPRESSIVE AGE oder ANATHEMA, und auch wenn am Mischpult versucht wurde, jedem Akteur den ihm zustehenden Raum zu gewähren, würde ich ihnen beim nächsten Mal das Budget für einen der ganz großen Knöpfchendreher des Genres wünschen, denn hier ist noch viel mehr herauszuholen.

’Letters From The Edge’ fasziniert vor allem mit enorm geschickt arrangierten, intensiven Songs voller Spannungsaufbau, erneuter Rücknahme und mächtiger Auflösung, die oft einen interessanten, unvorhersehbaren Umweg nehmen, was das Hörvergnügen nochmal exponentiell steigert (großartiger Peaceville Three-Style: ’Haven’). Und hier steht der Höhepunkt auch da, wo er tatsächlich hingehört – ganz am Ende: ’Shroud’ bündelt alle Stärken der Band in einem wahrlich vielschichtigen, jedes einzelne Instrument deutlich herausgearbeitet präsentierenden Gänsehaut-Perpetuum Mobile auf der Basis ALCEST´scher Traumgitarrenmelodien, mit der Zugabe klar gesungener Chorstrophen vor einem Bombast-Schluss – Übersong!

Viel zu schnell ist die Scheibe an ihrem Ende angelangt, muss man wieder auftauchen aus einem funkelnden, komplexen, trotz seiner stets durchscheinenden Tristesse, stets warm umschmeichelnden Klangkosmos, der einen behaglich, ja tröstlich eingelullt hat. Es ist SEAR BLISS mehr als zu wünschen, dass sie mit diesem Album endlich den letzten Schritt nach ganz vorne machen und das aufgeschlossene Publikum erreichen, welches sie verdienen. Meine Sommerempfehlung – von Avantgardisten für Individualisten!

(9 Glanzpunkte)

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