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SCHAMMASCH – The Maldoror Chants: Hermaphrodite

~ 2017 (Prosthetic Records) – Stil: Avant-Garde Black Metal ~


Härter, schneller, komplexer? So mancher wird sich gefragt haben, wie sich SCHAMMASCH nach einem kolossalen Trilith wie ‚Triangle‘ aus dem vergangenen Jahr noch steigern könnten. Die eigenwilligen Schweizer geben mit ihrer neuen Veröffentlichungsreihe die einzig folgerichtige Antwort: in Abkehr des allgegenwärtigen Fortschrittswahns gehen sie zurück zur Quelle, zu ihren spirituellen Wurzeln, in die Essenz ihres schöpferischen Selbst.

Wie viele Künstler des Surrealismus ist die Band stark beeinflusst vom Werk des französischen Dichters Lautréamont, den „Gesängen des Maldoror“. Teile daraus vertonen sie nun auf Basis des Originaltextes, und die Geschichte des Hermaphroditen bildet den ersten Teil hiervon. Auf 30 Minuten reduziert erwarten den Reisenden (es wäre völlig unzutreffend, hier nur vom „Hörer“ zu sprechen) an orthodoxe Mönchschants erinnernde, perkussive Sprech- und Chorgesänge zusammen mit viel Schlagwerk, die ihn durch atmosphärische Soundscapes begleiten und führen – bis er loslässt, sich einfach nur fallen lässt in die transzendente Erfahrung, und wenn er Glück hat, in die Trance.

Dass C.S.R nicht nur eine wunderschöne Sing-, sondern auch Sprechstimme hat, war schon zuvor bekannt, doch hier bekommt sie nochmals ein ganz anderes Gewicht: von zart-brüchig (‚These Tresses Are Sacred‘) bis zu fordernd-tief (‚May His Illusion Last Until Dawn’s Awakening‘) steht sie stets im Fokus. Dronig-düstere Gitarren steigern und akzentuieren die hypnotische, fast beängstigende Stimmung durch ständige Wiederholung des zu Beginn ganz schlichten Hermaphrodit-Themas. Gegen Ende des dritten Songs wird das Motiv von Tasten übernommen, alles kommt fast zum Stillstand, und die Stimmung schlägt um: passend zur Morgenstimmung erreichen wir den Moment auf dieser Platte, der pure Schönheit körperlich erfahrbar macht, heilig ist und Schauder über den Rücken laufen lässt; ‚These Tresses Are Sacred’ leitet über in die beiden energetisch dichtesten Songs des Albums. Nun singen Gitarren und Bass wie befreit auf, zusammen mit einem kristallklaren, treibenden Drumming von Boris A.W. (unglaubliche Präzision, hervorragend abgemischt!), halten uns jedoch weiterhin in einem Loop, nein, eher einer Ellipse wie gefangen in der Geschichte, erhöhen die Spannung weiter und alles kulminiert schließlich in der wunderbaren Raserei von ‚Chimerical Hope‘. Es ist fast unmöglich, am Ende die Augen wieder zu öffnen, und nicht sofort wieder von vorne zu beginnen, zu ergreifend schön war diese Erfahrung.

Dass ich einen Tag nach dem Release von `Hermaphrodite` der Erstaufführung dieses Werkes beim ‚The End of Music-Festival‘ in Heidelberg beiwohnen durfte, hat meine Ehrfurcht noch weiter gesteigert. Es war im Raum fast mit Händen greifbar, dass diese Veröffentlichung ein Lebensgefühl trifft, eine Gegenströmung zu digitaler Entfremdung und alles durchdringendem, seelenlosen Individualisierungs- und Optimierungszwang, wieder hin zum Blick auf das Große Ganze. Musik als Trost und Ermunterung, das individuelle wie kollektive Schicksal wieder selbst in die Hand zu nehmen.

Das Experiment ist gelungen. Der Sonnengott (babylonisch Šamaš) hat sich aufs Innigste mit der Sonne des Bösen (Aurore du Mal = Maldoror) vermählt. Habt teil an diesem Fest!

(3 x 3 = 9 Punkte)

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