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JOANNA NEWSOM – Have One On Me

~ 2010 (Drag City / Rough Trade) – Stil: Freak Folk ~


Joanna Newsom ist eine 100%-ige Entweder-Oder-Künstlerin. Man kann diese Frau, ihre Musik und vor allem ihre Stimme und den damit einherkommenden Gesansstil mit all seiner Exaltiertheit und seinen Manierismen nicht einfach nur irgendwie „ganz okay“ finden. Gibt’s meines Wissens nach auch niemanden. Entweder man liebt dieses Unikum, oder lehnt diese Musik völlig ab. Sie hat sich spätestens seit ihrem zweiten Album, dem absolut göttlichen und wunderbaren ´Ys´-Werk von 2006, im Spannungsfeld zwischen Folk, Minimalismus, Klassik und Freistil etabliert. Diese Platte gilt inzwischen in Fan- und Kritikerkreisen als eines DER ganz großen Meisterwerke der letzten 20 Jahre.

Was kann also nach so einer Platte, umjubelten Konzerttouren und dem entsprechenden medialen Echo kommen? Nun, zum Beispiel sehr sehr viel Musik! Das dritte Album ist gleich eine 3-fach CD geworden. Keine Bonus-Tracks oder -Discs, keine Videos oder Bildergalierien oder sonstwas, nur drei CDs vollgepackt mit 18 Liedern. Einfach noch mehr Joanna Newsom, diesmal öfters mal mit Percussions und Schlagzeug und anderen „klassischen“ Folk-/Rockinstrumenten. Oder auch mal alleine zur Piano- anstatt der sonst üblichen Harfenbegleitung. Aber alles in allem trotzdem unüberhörbar in ihrer Handschrift. Die seltsam bis lustig-kindlichen Melodien, die versponnenen, höchst poetischen Lyrics mit ihren abgefahrenen Bildern, die die Worte zeichnen und die Musik ausmalt sind auch immer präsent. Doch wer Joanna mag, der folgt ihr gerne in diesen wundersamen Kosmos irgendwo zwischen Summer of Love, Kate Bush, Alban Berg und Judy Garland.

Zugegebenermaßen sind über die volle Spielzeit dann doch ein paar langatmige Passagen vorhanden. Aber immer dann, wenn man sich dabei ertappt, irgendwie abzudriften und den Faden zu verlieren, kommt sie plötzliche mit einer kleinen, magischen Melodie um die Ecke gebogen – und man ist wieder voll bei ihr und sonnt sich in den zarten, warmen Windungen ihrer Musik. Und gerade die leisen Passagen, Newsom-typisch nur sie mit ihrer Harfe, laden zum Verweilen, immer wieder Hören und Eintauchen ein. Auf der anderen Seite sind ein paar knackige, poppige Songs zustande gekommen, die für ihre Verhältnisse fast schon Radiosingles wären (´Good Intentions Paving Company´, ´Soft As Chalk´). Es finden sich auf diesem Album zwar nicht die komplett überirdischen Momente (wie z. B. die ´Meteorite´-Passage von ´Emily´ auf dem letzen Album), aber wenn nach einem Jahrhundertwerk „nur“ eine weitere schöne und tolle Platte kommt, meckert ja keiner.

Musikliebhaber im allgemeinen und Kritiker im Besonderen mögen ja doch (trotz oftmalig gegenteiliger Beteuerungen) Kategorien, um etwas zu be- oder umschreiben. Am Anfang ihrer Karriere wurde Joanna ja in so manche Schublade gepackt: „Weird Folk“, „Freak Folk“ oder auch „Elfenfolk“ und „wassonstnochsoalles“. All das war nicht so ganz verkehrt, ob ihrer eigentlichen Verrücktheit und Unkategorisierbarkeit. Und trotz aller nach wie vor Genregrenzen sprengenden Wundertütigkeit dieser Darbietung finde ich steht ihr „Freak Folk“ immer noch gut zu Gesicht. Denn da sich der „Freak“ vor allem durch sein Außenseitertum und seine Andersartigkeit geriert, ist die Musik auf diesem Kunstwerk trotz gestiegenen kommerziellen Potentials und vieler genretypischer Merkmale doch immer noch im positiven Sinne wirsch, verschroben, verrückt und versponnen, in höchstem Maße eigenwillig, eigen- und einzigartig und im Wortsinne einfach „freaky“. Und meiner Meinung nach großartig.

Anspieltipps für Newsom-Neulinge: siehe oben, für „Weirdos“: ´Jackrabbits´, ´Kingfisher´ oder der Titeltrack.