MeilensteineVergessene Juwelen

DAVID SYLVIAN – Secrets Of The Beehive

  ~ 1987 (Virgin Records) – Stil: Art Rock ~


Jetzt hat mich kurzfristig doch noch der Covid19-Blues erreicht – angesichts der Lockdown-Aussicht. Das ist an den Platten abzulesen, die in meinen CD-Player kommen. Noch bin ich nicht bei JOY DIVISION angekommen. Aber bei David Sylvian, einer der spannendsten und unterbewertetsten Persönlichkeiten in der Rock Musik. Begonnen hat er mit JAPAN mit New Wave oder so, immer stärker werdend ab ´Quiet Life´ über ´Gentlemen Take Polaroids´ bis zum absoluten Meisterwerk ´Tin Drum´ 1981. Auf diesem absoluten kreativen Höhepunkt löste sich die Band folgerichtig auf (um zehn Jahre später unter dem Namen RAIN TREE CROW noch ein weiteres Meisterwerk zu veröffentlichen). ´Tin Drum´ war perfekt in Form, musikalischer Darbietung und hatte in ´Ghosts´ einen der verstörendsten Songs der 80er-Jahre und einen meiner absoluten Favoriten aller Zeiten.

Der gute David Sylvian war im nicht ganz offenen Konzept von JAPAN doch zu sehr in seiner Kreativität eingeschränkt und hat sich in den folgenden 40 Jahren ohne Rücksicht auf irgendwelche Schubladen oder kommerzielle Vorgaben selbst verwirklicht. Er ist dabei immer ein Suchender geblieben. Oft hat er außerhalb jeglicher Genregrenzen gesucht, immer öfters auch sehr sperrig und instrumental. Zu Beginn seiner Solo-Karriere war er noch deutlich zugänglicher und setzte seinen unverwechselbaren Gesang noch reichlich ein. Das zugänglichste Album ist das hier besprochene Meisterwerk ´Secrets Of The Beehive´.

Auf den ersten Blick sehr wohlklingend und wunderschön. Aber genauso abgründig und dunkel, wie die ambivalente Persönlichkeit von David Sylvian. Nicht einfach zu fassen. Das Aussehen des Dandys gepaart mit tiefem Gedankengut. Das lässt sich auf ´Secrets Of The Beehive´ sofort erkennen. Nach dem einmütigen Intro ´September´ kommt mit ´The Boy With The Gun´ sofort ein düsterer Titel. Schöne Musik gepaart mit der Geschichte eines Serienkillers. „As if life had loved him less. Reading down his list of names….I am the law and I am the King. I am the wisdom, listen to me sing. He carves out the victim’s names. In the wooden butt of the gun.“ Das ist musikalisch eher sanft, aber textlich schwerer Stoff. Dies setzt sich auf dem Album fort. Der vierte Song ´Orpheus´, einer der schönsten Songs, die jemals geschrieben wurden. Den Song sollte man kennen, wenn man Musik mag (siehe hier). Meine Assoziationen sind hier wie so oft bei David: leere, luxuriöse Hotelzimmer über der Großstadt. Gepflegte Einsamkeit, Selbstisolation, Depression, Endzeitstimmung. Davids anspruchsvolle Lyrics befassen sich immer mit philosophischen Fragen. Dem Menschsein, der Vergänglichkeit, Schönem und Grausamem.

´Orpheus´ hätte ein kommerzieller Erfolg werden können. Das Lied ist eingängig und originell, aber wahrscheinlich doch zu anspruchsvoll. Außerdem hätte das David Sylvian auch nicht interessiert. Nächster Höhepunkt: ´The Devil’s Own´. Düsteres Klavier, Klaustrophobie, der Teufel, unterdrückte Gewalt, Stimmen im Hintergrund und immer diese kurzen Pausen, die bedrückend wirken. Dann ´When Poets Dreamed Of Angels´. Die textlichen Abgründe werden fortgesetzt und wieder eine geniale Instrumentalisierung. Wunderschöne Akustikgitarren von Multiinstrumentalist Ryuichi Sakamoto, der auf dem Album neben David kongenialer Hauptverantwortlicher für die Musik war. Und immer wieder die einmalige Stimme von David – sofort erkennbar. ´Mother And Child´ geht dunkel weiter, ein Anflug religiöser Themen gepaart mit tiefen Bässen und Free Jazz-Ausflügen. Selbst ´Let The Happiness In´ straft den Titel Lügen. David Sylvian am Hafen im kühlen Dezember (man, dass passt!). Als wäre ´(Sittin‘ On) The Dock Of The Bay´ von Otis Redding gedanklich in die 80er-Jahre verfrachtet worden. Es geht nicht mehr um Arbeitslosigkeit, sondern um mentale Perspektivlosigkeit und Agonie. Die Percussion unterstützt dieses vor sich Hinplätschern effektiv. ´Waterfront´ erstrahlt noch einmal in voller Schönheit wie ´Orpheus´ und berührt einen ganz tief in der Seele. Der letzte Song ´Forbidden Colours´ weniger düster, war auch nur auf den CDs ein Bonustitel.

Wie kann man die Musik beschreiben? Ich habe es als „Art Rock“ charakterisiert. Habe ich geklaut, finde ich am treffendsten oder auch nicht. Intellektuell ohne exaltiert zu sein. Sehr durchgängig instrumentalisiert und arrangiert, anders als viele der perkussiven späteren Alben von David mit Robert Fripp und anderen Dauerkreativen. Das Album ist wie ein Wasserfall, es fließt in Schönheit vor sich hin, aber man fürchtet sich ständig vor dem nahenden Abgrund. Hier war einer der spannendsten und kreativsten Künstler der Rockmusik am Werk.