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VITAM AETERNAM – The Self-Aware Frequency

2020 (Crime Records) – Stil: Avantgarde


Dieses gewaltige Projekt um das internationale Dreigestirn Jake Rosenberg (USA – Keyboards, Piano, Programmierung und Samples), Râhoola (Mexiko – Stimmen, Chor, Keyboards, Piano, Orchestration, Programmierung und Sound Design) und André Aaslie (Norwegen – Piano, Orchestration, Moog und Mellotron) entführt euch vom ersten Song an in eine akustische Welt des gehobenen Filmsoundtracks mit Gesang, Stimmen und Chören. Sozusagen das beste Kinoereignis dieses Jahres ohne bewegte Bilder, denn diese lässt die Musik in euren Köpfen entstehen – bei jedem natürlich individuell.

 

 

Ein einsames Glockenspiel stimmt ein Thema an, welches im späteren Verlauf des Werkes von der Gitarre fulminant übernommen wird. Schon ´Born´ bereitet auf epischen Bombast und klassische Streicher plus Piano vor, stimmungsvoll und atmosphärisch. Der ´Coward´ wechselt zu leichten Hintergrundbeats, um die durch weibliche Vocals und mystische Flüsterstimmen intonierte Erzählung voranzubringen. Kate Bush scheint gemeinsame Sache mit PORTISHEAD zu machen, doch apokalyptische Soundcollagen malen eine geheimnisvolle Umgebung, die von Klavier und sanften Melodien wiederum harmonisiert wird. Choral, orchestral und leicht metallisch mit mächtigen Drums und Gitarren werden Kontrastpunkte zu unheimlichen Akzenten in den ruhigen Phasen gesetzt.

 

 

Es ist spätestens bei den über das Album verteilten, kurzen Zwischenstücken ´Becoming´, ´Arising´ und ´Transcending´ klar: Das hier ist Musik zum Zuhören. Die cineastische Mystikplatte des Jahres. Avantgarde goes to the Movies oder es könnte der Soundtrack für Serien wie „American Horror Story“ oder „The Haunting Of Hill House“ sein. Sirenengesang läutet den nächsten Höhepunkt ´Human´ ein, verzweifelter, aber wohlklingender Gesang wird durch Emotionsausbrüche überrollt. Die introvertierten PAIN OF SALVATION von ´Be´ treffen mit Synths und Rhythmen von Charlie Clouser (sehr umtriebiger Musiker, Remixer und Komponist vieler Filme und Serien) auf das schaurig-schöne Oeuvre von DEVIL DOLL. Deren Gitarrist Bor Zuljan spielte eine Schlüsselrolle auf dem Album und nun könnt ihr aufatmen, wenn ihr noch immer nach der einleitenden Vorstellung der Masterminds das Instrument Gitarre vermisst habt.

 

 

Nicht nur hierbei kommen einem die Parallelen zu den Werken der legendären Gruppe um den geheimnisvollen Mr. Doctor oder auch dem Mittelpart von DIMMU BORGIRs ´Progenies Of The Great Apocalypse´ (huch – auch Øyvind “Mustis” Mustaparta findet sich als Gast beim folgenden ´Death´) in den Sinn. Das Gefühl ist Metal, die Musik ist so viel mehr.

Elektronische Beats, wenn Rhythmik erwünscht ist, Synthteppiche, die dem erzählenden Klavier Raum machen und immer wieder die Dynamik zwischen gefühlvoller Ruhe und hochemotionalen Ausbrüchen des Gesanges am Rande des Wahnsinns wie einst Midnight von CRIMSON GLORY. Wer könnte ´Death´ passender vertonen, als die einsame Violine von Juan Manuel Flores vor der gespenstischen Kulisse von Klavierklängen und einem Geisterchor? Auch dieses Stück könnte die kalten Nächte in einem verlassenen Herrenhaus bis zur Gänsehaut vor dem inneren Auge heraufbeschwören.

 

 

Alle Trademarks zusammen finden sich auf dem wunderschön-traurig beginnenden Neuneinhalbminüter und Kernstück ´God Machine´, welches die Illusion mehrerer „Songstrukturen“ vorgaukelt und dabei dennoch – wie auch das gesamte Werk – auf ganzer Linie überzeugt… wenn man es zulässt und in der richtigen Stimmung ist. Hier nimmt der Gesang erneut das Anfangsthema auf, Chöre mischen sich mit Trommeln, unheimliche Synths wabern im Hintergrund der geflüsterten und gesungenen Verzweiflung, bis das Thema wie anfangs beschrieben von der hymnischen, singenden Gitarre übernommen wird und sich für alle Zeiten in der Klein- und Grosshirnrinde festfrisst und ein schaurig-schönes Ende findet. Göttlich.

Die finale ´Viral Idea´ lässt zunächst ein positiv-harmonisches Gefühl aufkommen, bevor sich die Flüsterstimmen mit rhythmischer Sphärik, grandiosem Gesang und einer singenden Sologitarre zum Finale abwechseln. Die Idee des lyrischen Konzeptes um den Geist eines denkenden Wesens in einem musikalischen Universum der Erkenntnisse und Wahrheiten ist dabei selbst eine individuelle Auseinandersetzung wert.

 

 

Wow. Das ist große Kunst, die wohl für manche gar nicht gemacht ist, anderen jedoch Horizonte eröffnet. Ich persönlich wähne mich auf den Spuren des one-and-only Midnight, jahrelang eingelocked im Attic auf dem Rocking Chair schaukelnd und in Shadows starend – eine 35-minütige ´Lost Reflection´. Als Fan von mystischen Gruselfilmen oder Schauergeschichten erlebt man hier ein Schauspiel ohne Gleichen, welches nicht einmal bewegte Bilder dazu benötigt. Praktisch der Gegenentwurf zum klassischen Stummfilm. Und wem die digitale Variante von Bandcamp reicht, der bekommt zumindest bei der Bonusversion das schönste Artwork des Jahres auf Pdf.

Die Zelluloidrolle ist zu Ende und flattert in endloser Drehung weiter, VITAM AETERNAM wurde in meine Jahresbestenliste projiziert. Überragend.

 

www.facebook.com/VitamAeternamBand

vitamaeternam.bandcamp