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ANNA VON HAUSSWOLFF – All Thoughts Fly

~ 2020 (Southern Lord) – Stil: Classical ~


Sacro Bosco, der Heilige Wald, der Park der Ungeheuer, ist ein nördlich der italienischen Stadt Bomarzo gelegener Waldgarten. Vicino Orsini (* 1523 – † 1585) ließ diesen grotesken Park mit all seinen Skulpturen zum Gedenken an seine verstorbene Ehefrau anlegen, 30 Jahr lang. Irgendwann geriet der im Wald gelegene Park in Vergessenheit und verwilderte.

Erster berühmter Besucher war nach seiner Wiederentdeckung im 20. Jahrhundert Salvador Dalí, der vor Ort Inspirationen für einige Motive fand. Anna von Hausswolff, die schwedische Pianistin, nimmt sich derzeit in ihren Gedankengängen den bewaldeten Formkünsten an und lässt die hieraus entstandenen Emotionen aus der Pfeifenorgel sprechen. Anna von Hausswolff lässt Gedanken fliegen, sie fliegen wie die Schmetterlinge. Sie lässt Gedanken frei, lässt ihren Fingern freien Lauf. Allein sie und die Pfeifenorgel, sie allein in der „Örgryte New Church“ in Göteborg, sieben Tage lang.

 

 

Über 100 Orgelneubauten sind dem berühmten Orgelbauer Arp Schnitger (* 1648 – † 1719) Zeit seines Lebens zuzurechnen, auch 30 außerhalb Deutschlands. Die Orgel in der „Örgryte New Church“ ist eine schwedische Nachbildung der Arp Schnitger-Orgel. Schnitger soll nur wenige Orgeln mit vier Manualen, mit vier Tastaturen angefertigt haben. Der Nachbau besitzt deren vier und ein Pedal. Allein die der Orgel geschenkten Pausen sorgen im Luftsystem für schöne Verzerrungen, die Anna von Hausswolff mit Tonmann/Produzent Filip Leyman für ihre Sinfonie in sieben Szenen ausloten konnte.

Die Eröffnung, ´Theatre Of Nature´, ist die Bekanntmachung zwischen Mensch und Orgel. Der Rausch des Windes durchzieht den von der Natur wiedereroberten Waldpark mit seinen Skulpturen. Naturtheater. Naturschauspiel. Derweil Anna die Tastenanschläge in stetiger Wiederholung manifestiert, zieht der windige Geräuschpegel aus dem Hintergrund auf und übernimmt die Welt der Noten.

Lauthals dürfen das Geschirr und seine tonangebenden Luftverpuffungen den aufkommenden Drone-Ton von ´Dolore Di Orsini´ ankündigen. Schmerzhaft schaudern die Töne in den Schwingungen zwischen imaginärem Dudelsack und der Mundharmonika des Todes. Schwingungskampf. Schwingungsdampf. Wabernd bedrohlich führt ´Sacro Bosco´ durch die Finsternis, ehe die Orgel den Hymnus der Freude und der Auferstehung mit allen Händen anschlägt.

 

 

Taste für Taste, Luft um Luft schnappend, zeigt sich ´Persefone´ geruhsam und majestätisch, um wiederum den zitternden Todesengel im Tonanschlag vibrierend zu feiern. Denn das mittlerweile fünfte Album ´All Thoughts Fly´, das wie kein anderes von Anna von Hausswolff tönt, mutetet in diesen Momente wie eine Symbiose aus Ennio Morricone und Johann Sebastian Bach an. Todesmelodie. Todesharmonie. Der letzte Ton harrt sekundenlang wie ein Teekessel aus und dürfte ewig so weiterpfeifen.

Dagegen bläst sich ´Entering´ langsam ratternd und klappernd auf, doch die Freude währt nur über die kurze Distanz von zwei Minuten. Das sich anschließende Titelstück ´All Thoughts Fly´ geht umgehend in die Vollen, minimalistisch die wenigen Töne in Dauerschleife zu reproduzieren. Tonreproduktion. Tonpräsentation. Sodann hallt die minimale Modifikation, erhellt Stück für Stück den Orgelklang. Die Gedanken im Gehirn kreisen, die Schmetterlinge im Bauch. Reinigende, ausnehmend spirituelle zwölf Minuten.

Die letzte Fahrt bläst zum Aufbruch. ´Outside The Gate (For Bruna)´ pustet die Noten heraus, schlotternd bleiben sie in der Luft stehen. Langsame Pfeifentöne zeigen sich in der aufkommenden Bedrohung, in der Verzerrung des Bildes. Tragisch, dass der Italien-Ausflug über den Umweg Göteborg bereits nach 43 Minuten endet. Ohne Pfeifkonzert.

Offene Geister, ob mit oder ohne spirituelle Ader, verharren in den Minuten von ´All Thoughts Fly´ ohne wegzufliegen, narkotisiert, hypnotisiert, bei Anna von Schnitgers Orgelpfeifensinfonie.

(9 Punkte)


(VÖ: 25.09.2020)