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FISH – Weltschmerz

~ 2020 (Chocolate Frog Company) – Stil: Rock ~


1990 veröffentlicht FISH sein erstes Solo-Album ´Vigil In A Wilderness Of Mirrors´, seine Karriere mit MARILLION umgehend weit hinter sich lassend. 30 Jahre später schließt sich der Kreis, der charismatische Sänger schenkt seiner nie schrumpfenden Anhängerschaft sein allerletztes Werk: ´Weltschmerz´. Eine entsprechende Tournee „Weltschmerz / Vigil In A Wilderness Of Mirrors“ soll sich anschließen. Die schwere Geburt von ´Weltschmerz´, von seiner Entstehung bis zu seinem steinigen Release, mündet somit, so Gott will, in einem Feuerwerk.

Als ´A Parley With Angels´ 2018 erscheint, macht diese EP allen Fish-Jüngern bereits den Mund auf das kommende Werk wässrig, doch dessen Erscheinen verzögert sich von 2019 auf 2020 und in diesem Jahr nochmals aufgrund der Weltlage. Am 24. Juli 2020 ist es schließlich beinahe soweit, die Pre-Order-Phase startet. Die Wahl fällt jedoch nicht leicht, wenn sich die Qual zwischen Doppel-Vinyl, Standard-Doppel-CD sowie Deluxe Version, dennoch letztendlich unvermeidlich und eindeutig entscheiden muss.

 

 

Fünf Jahre hat der schottische Sänger an der Fertigstellung von ´Weltschmerz´ verbracht. Eine Zeitspanne, in der einige Welten zusammenbrechen: Die Brexit-Frage fügt einen gehörigen Riss in die Gesellschaft Großbritanniens, die Flüchtlingskrise in die von ganz Europa. Fishs Vater stirbt, seine Mutter ist pflegebedürftig und er selbst muss sich an den Händen sowie der Wirbelsäule operieren lassen. Daher wollte er jetzt dem Business den Rücken zukehren, solange er noch in blendender Verfassung live auftreten kann, um sich in Zukunft seinem Garten und dem Verfassen von Büchern zu widmen. So der Plan. Doch dann kam ein neues Coronavirus und machte nicht nur den Veröffentlichungsplan zunichte.

Das Musikeraufgebot ist gleichwohl nicht das letzte. Fishs beständiger Mitautor Steve Vantsis (Gitarre, Bass, Keyboards) stand ihm zur Seite, ebenso Produzent Calum Malcolm (BLUE NILE, PREFAB SPROUT, CLANNAD). Als Gitarristen gehörten Robin Boult und John Mitchell (IT BITES, LONELY ROBOT), als Schlagzeuger Craig Blundell (Steve Hackett) und Dave Stewart (CAMEL) sowie Saxophonist David Jackson (VAN DER GRAAF GENERATOR) zum Aufgebot. Die Streicheleinheiten des SCOTTISH CHAMBER ORCHESTRAs sind ebenfalls nicht zu überhören.

Das Welt- und Seelengefüge macht ´Weltschmerz´ zu einem dunklen, leicht sinfonischen Spätwerk. Die Gitarren und das gesamte Brimborium scheinen ohnehin in einer dichten Atmosphäre 84 Minuten lang allein dem Gesang zu folgen.

 

 

Ist die Entrückung nahe? Der menschliche Herzschlag ist zu Beginn von ´Grace Of God´ aus der Maschine zu vernehmen, gleichfalls leichte Streicher. Die Maschinen sollen anbleiben, das Leben aufrechterhalten. Hoffnung, auf die Gnade Gottes, bleibt, trotz durchstochener Venen, Monitore und Vorhänge. Erster Schmerzhöhepunkt. Percussions erweisen sich hernach als eben diese Stöcke im, von der EP bekannten ´Man With A Stick´ und rufen mit einem handfesten Bass sowie Solo-Beiträgen des Keyboards mitunter Peter Gabriel ins Gedächtnis. ´Walking On Eggshells´ gerät sodann erst zum Ausgang hin richtig in Wallung. Dezent mit Doris Brendel im Background, zeigt der Song den Weg zu dem einen Punkt auf, der womöglich irgendwann überschritten ist, und dennoch nicht die Fesseln aller Zusammengehörigkeit zerreißen darf.

Das eingängigste und kürzeste Stück des ersten Silberlings ist das folkige ´This Party’s Over´ und thematisiert die Fehler im sozialen System, deren Konsequenzen unsere Kinder zu tragen haben. Des Weiteren besitzt später noch der Trondheim Waltz ´C Song´ folkige Ansätze zum gemeinsamen Händeklatschen. Ein positiver Song mit dem Ratschlag, sich von niemandem verdrießen zu lassen. Die Geschichte der ´Rose Of Damascus´ über den Bürgerkrieg in Syrien ist äußerst nachdenklich gehalten und erfährt erst im Laufe seiner fünfzehn Minuten mit Handclaps etwas Freude. Irgendwann erzählt Fish die Geschichte im wahrsten Sinne des Wortes sogar nur noch.

 

 

Den zweiten Silberling eröffnet die überwältigende Klavierballade ´Garden Of Remembrance´ über die Probleme eines Ehepaares, bei dem ein Partner dement wird. Zweiter Schönheitspunkt. Die Angst des kleinen Mannes steht im Mittelpunkt des zehnminütigen ´Little Man What Now´, nach einem Roman von Hans Falladas, mit ausgiebigem Saxofonspiel und einem überbordenden Solo zum Schluss, und war ebenso wie ´Waverley Steps (End Of The Line)´ bereits auf der EP vertreten. Jetzt zeigen beide neugemischt die Behutsamkeit des gesamten Song-Materials, das einerseits vereinzelt aus der Melancholie ausbricht und andererseits wie letztgenannter Dreizehnminuten-Song mit kleinen Feinheiten, hier Bläsern und südländischen Gitarrenklängen überrascht.

Den Todesstoß versetzt dieser Welt das Unausgesprochene des Weltschmerzes: die Leiden der Bombardierten, der Armen, Obdachlosen und Hungernden auf dieser Welt, ´Weltschmerz´, all das Vergessene auf der Erdkugel, der ´Weltschmerz´ ertönt zuletzt, aber auch die Gangs an der Straßenecke, die Busch- und Waldbrände sowie die Mauern in der Wüste. ´Weltschmerz´. Letzter Explosionspunkt.

„The rapture is near“, sind die letzten Worte von Fish. Die Zeit ist nahe! Die Entrückung ist nahe!

(Essentielles Alterswerk für den treuen Freundeskreis)


Pics: Wojtek Kutyla
(VÖ: 25.09.2020)