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POOR GENETIC MATERIAL – Here Now

~ 2020 (Quixote Music) – Stil: Art Rock ~


Als Mannheimer kennt man die Traditionen der Stadt in Sachen Musik. Auch wenn selbst nur als „Neigschmeckter“. Angefangen mit der höfischen Musik der Mannheimer Schule im Spätbarock, über Blues und Rock mit JOY FLEMING hin zu progressiven Rockklängen angefangen bei TWENTY SIXTY SIX AND THEN, KIN PING MEH über SCHWEFEL bis hin zu ALIAS EYE. Und wer letztgenannte kennt und liebt, weiß um des Sängers Philipp Griffiths zweites musikalisches Standbein POOR GENETIC MATERIAL.

Seit 20 Jahren in der Art Rock Szene aktiv, ist ´Here Now´ schon das zehnte Album. Manche haben sie sicher schon früher für sich entdeckt, spätestens aber mit ´Island Noises´ spielten sie sich endgültig in die Herzen aller qualitätsbewussten Musikliebhaber. Auch erwähnenswert, immer wieder die textlichen Konzepte, angefangen mit den vier Alben zu den vier Jahreszeiten. Das schon erwähnte ´Island Noises´ vertonte Shakespeares Drama „Der Sturm“, ´A Day In June´ übersetzte „Ulysses“ von James Joyce in Töne.

Leider habe ich den direkten Vorgänger ´Absence´ übersehen, dafür bin ich von ´Here Now´ um so begeisterter. Auch hier gibt es einen inhaltlichen roten Faden, nicht so stofflich wie bei den Literaturbearbeitungen. Dafür eher auch einer metaphorischen, gedanklichen Ebene. Es geht um den Augenblick und die Ewigkeit, den Augenblick in der Ewigkeit und die Ewigkeit des Augenblicks. Es geht um das Jetzt zwischen dem Gestern und dem Morgen. Und um meinen Platz in diesem ewigen Moment.

Beispielhaft nehme man einfach das 13-minütige Herzstück ´The Garden´. Als Gast kommt hier am Mikro Martin Griffiths zum Zuge. Nicht zum ersten Mal hat der Vater des hauptamtlichen Sängers Teil am Gelingen. Wer gerade nicht sicher ist, Martin Griffiths wurde zu Beginn der 70er Jahre bekannt als Stimme der BEGGAR’S OPERA (´Time Machine´) . Irgendwann blieb er aus Liebe in der Kurpfalz hängen. So arbeitet er zum Beispiel als Fremdenführer in der Rolle eines britischen Zeitreisenden in Schloss und Garten zu Schwetzingen. Und dieser Park ist die Inspirationsquelle dieses Lieds. Schon diese Fäden passen, egal ob gewollt oder nicht, ins Gesamtkonzept.

on the run from a smoking gun
I found rest and peace in the Garden

Schloss und Garten Schwetzingen, wie wir sie heute kennen, entstammt der kurfürstlichen Hofhaltung im Barock. Mehrere Pfälzer Kurfürsten bauten, planten, jagten, lebten, liebten hier. Verbrachten die Zeiten zwischen den Kriegen hier. Und nicht nur in Schwetzingen, sondern auch Versailles, Hampstead Heath, Dessau-Wörlitz oder Peterhof bei Petersburg. Hier fanden Herrscher Ruhe und Frieden, hatten sie einen Ort im Hier und Jetzt ohne Angst und Zwänge.

every statue in the Garden speaks to me
with its story in mythology

Die Kurfürsten gestalteten, mit Hilfe international berühmter Künstler, ihre Refugien. So entstanden über die Jahre französische Gärten und englische Parklandschaften. Darin zu finden indische Tempel, chinesische Brücken, Arboretien, die große Welt dargestellt in der kleinen des Parks. Der Augenblick in der Ewigkeit. Statuen griechischer Götter erzählten und erzählen noch heute Geschichten, die dem Herrscher zum Vorbild oder zur Warnung dienten. Apollo und Ares, Bacchus und Minerva, Vorbilder eines vorbildhaften fürstlichen Lebens. Und wie Apollo die Musen um sich scharte auf dem Parnaß, so versammelte der Fürst in seinem Parnaß Maler, Dichter, Architekten und Musiker zur eigenen Ehre.

give me crescendo give me rocket
diminuendo give me sigh

 

So war das fürstliche Leben wie eine Oper, anschwellende Musik und aufsteigende Macht, abschwellende Musik und schwindende Stärke. Und wie Musikkritiker sich an Opern abarbeiteten, so wurden auch Fürsten nicht von Kritik verschont. Oft wurde sie nicht gehört, und dann konnte es geschehen, dass die Macht begrenzt war, oder ganz genommen wurde. Die Künstler suchten sich ein neues Wirkungsfeld, der Orchestergraben leerte sich. Im schlimmsten Falle fiel der Kopf. Die Macht, von Gott für ewig gegeben, in einem Augenblick später, ging sie verloren.

on the run from a smoking gun
yes I found rest and peace in the Garden

Heute stehen wir in diesem Garten und atmen die Ewigkeit, sehen die große Welt in der kleinen, in Schwetzingen, oder in Gödöllö, Sans Souci oder Drottningholm. Und all das verpackt in einem kleinen Lied, das alles enthält. Melancholie und Freude, Lautes und Stille, Steigen und Fallen.

Aber ´Here Now´ ist nicht nur ´The Garden´. Das Album auf einen Song zu beschränken wäre ungerecht. Ungerecht etwa gegenüber dem eröffnenden Titelsong oder ´Serendipity´, die mit Spielzeiten unter 5 Minuten beweisen, Prog geht auch ohne Ausschweifungen. Dennoch ist alles drin, was benötigt wird, gerade der zweite Song, der sogar tanzbares Discofeeling zu vermitteln vermag. Wenn es aber darauf ankommt, wir Proggies lieben unsere Ausschweifungen. Also Longtracks.

Und so finden sich noch drei recht opulente Preziosen jenseits des Radioformat. Etwa das melancholische ´The Waiting Game´, das von der Einsamkeit des Einzelnen erzählt, inmitten eines menschenüberfüllten Ortes. Aber nichts kommt zurück, alles geht vorbei. Und man wartet, wartet und wartet. Das Fade Out an dieser Stelle ist da tatsächlich eines an der rechten Stelle.

´Notes From My Younger Self´ darf verhältnismäßig hart rocken. Das rundet das bunte musikalische Bild gut ab. Und was sagt mir mein jüngeres Ich? Habe ich alles gefunden, wonach ich einst gesucht habe? Weiß ich noch, was mir einsten wichtig war? Strebe ich nach den gleichen Zielen wie als junger Mann? So kurz vor meinem 50. scheint dieser Song wie ein Geschenk für mich.

Der luzide-luftige Abschluss nennt sich `This Place´. Noch frage ich mich, welcher Ort das ist. Die Orgel spricht vielleicht für eine Kirche, mit bunten Fenstern, Glasmalereien aus früheren Zeiten, von der Sonne erhellt. Es klingt aber auch nach dem Teppich, in dem die Crawlers heimisch sind.

here and now
is there and then
each step ahead takes me back again
there and then
is here and now

Ich möchte noch einmal betonen, ´Here Now´ist kein Soloding der Herren Griffiths. Diese sind Teil eines Größeren Ganzen. Da sind Stefan Glomb (Gitarre) und Philipp Jaehne (Keyboards), die dem feinen Art Rock die Tiefe geben. Es gibt die Rhythmusgruppe Dennis Sturm (Bass) und Dominik Steinbacher (Drums), die dafür sorgen, dass nichts auseinander fällt. Und zu guter Letzt, nicht die unwichtigste Person, Flötistin Pia Darmstaedter, die mit ihren schwebenden Tönen für die Sahnehaube sorgt. Sie hat eine Funktion, die eher an die Geige bei KANSAS erinnert, als die Flöte bei JETHRO TULL.

Egal was noch kommt, dieses Album sollte eines der Highlights anno 2020 werden. Kaum zu toppen, wird es auch vom etwa gleichzeitigen STERN MEISSEN-Album ´Freiheit Ist´ nicht erreicht. Und so können alle zulangen, Floydianer und Wagnerianer, AliasEyisten und Genesisten.

Leider ist die CD-Version etwas schmal, wie sie daherkommt, so ohne Booklet und Texten. Das mindert ein wenig den Gesamteindruck. Und so vergebe ich 9,75 hell strahlende Punkte

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