PlattenkritikenPressfrisch

TAV – I

~ 2020 (Ván Records) – Stil: Atmosphärischer Rock ~


Wurde in den runtergefahrenen, stillen Pandemie-Zeiten mehr Musik gehört und produziert als sonst? Wenn ich mir den beeindruckenden Output meiner Kollegen hier während der vergangenen Monate so anschaue, muss das wohl so sein; und offensichtlich ging es nur mir so, dass Musik hören absolut unmöglich wurde. Nicht, dass ich es so gewollt hätte, oder nicht mehrfach vergeblich versucht hätte – es ging einfach nicht. Ich kenne das schon aus anderen tiefen Tälern in meinem Leben, doch mich nicht durch sie ablenken, auffangen und trösten lassen zu können in einer Zeit des rapiden Wandels, von grösstem seelischen Druck und stärkster Spannung war beängstigend, aber auch fokussierend zugleich. Doch irgendwann wollte, musste ich zurück zum Gewohnten, Geliebten, und dabei half mir genau diese Platte hier.

Denn was TAV mit ihrem Debüt abliefern, ist heilsam. Nicht weniger als das. Vielleicht sogar heilig. Denn diese Musik gibt viel, und fordert überhaupt nichts – keine Konzentration, besondere Situation oder gar zielgerichtetes Hören, es muss nicht mal der Highend-Kopfhörer sein, es reicht, ´I´ laufen zu lassen, die sechs Longtracks zwischen 7 und über 11 Minuten tun ihr Werk von selbst. Reinigen, befreien, erlösen. Unprätentiös, wie selbstverständlich, doch sich der ihnen innewohnenden Kraft bewusst. Aus selbstsicherer, gelassener Ruhe agierend, geben die Münchner Antworten auf Fragen, die dein Unterbewusstsein noch nicht einmal an die Oberfläche hat dringen lassen.

 

 

Attribute wie meditativ oder hypnotisch liegen da nahe, erscheinen jedoch viel zu abgedroschen, und bei weitem nicht umfassend genug für diese Fülle an sich kaleidoskopisch wandelnden Stimmungen, lange verschütteten Assoziationen und Erinnerungen aus einer unbekannten Zukunft. Ein Katalysator beschleunigt eine Reaktion, hier geschieht das Paradox: allein die bewusst genutzte Ruhe öffnet Herz und Verstand, macht neue Erfahrungen möglich und weitet den Horizont. Improvisation erweitert generell den Raum um ein Thema, hier passiert jedoch, auf genauso spielerische Art, das Gegenteil, alles wird zu einem Ziel, einer sanften Klimax hin entwickelt und konzentriert, und koste es noch so viele minimal abgewandelt wiederholte Runden in der Möbiusschleife (´Cinder´). TAV machen Veränderung, Entwicklung, Anpassung zu ihrem zentralen Thema und gleichzeitig ihrer Ausdrucksform, und nennen es „konstante Metamorphose“.

Womit wir beim Stil, und damit bei der Unmöglichkeit einer Klassifizierung angelangt wären. Aus dem Stand so unverwechselbar und einzigartig zu klingen, braucht sehr viele Einflüsse. Will man den „Ván Records“-Kontext verstehen, kann man zum einen die Repetition anführen, die nicht nur beim selten auch einmal blastenden, und generell sehr kraftstrotzenden, treibenden Schlagzeug auf einen Hintergrund im Black Metal hinweist, auch die immer wieder tremologepickten Gitarrenspuren kreisen oft wie ein Adler über der weit aufgespannten musikalischen Landschaft wie bei ALCEST oder SAOR (mein Favorit ´Umbilical Cord´, neben dem grandiosen ´Silken Slumber´ das wohl schwarzmetallischste Epos dieser Scheibe), mit denen sie auch die immer wieder aufblitzenden Folkeinflüsse teilen. Zum anderen nimmt sogleich wieder die düstere Kühle postpunkiger oder gothischer Melodien gefangen, die von den 80er-Stil-Keyboards, den Gitarren und einer genauso verhallten, sphärisch-hellen Stimme, mehr kommentierend als phrasierend gesungen, so lange weiterentwickelt und in den Äther hochgeschraubt werden, dass sie gerade durch ihren Minimalismus und ihre Reduktion auf das Wesentliche den Hörer einlullen wie es die Neo-Doomer im Kraftfeld zwischen neueren DOWNFALL OF GAIA, E-L-R und (DOLCH) so perfekt verstehen. Wer sich genau diese Schnittmenge gut in seinem Player vorstellen kann, dem sei das bayrische Quartett extrem ans offene Herz gelegt. Und allen, die ihrer Seele etwas Gutes tun, ihr sommerliche Freiheit, Wärme und Weite schenken wollen, sowieso. Mehr Schönheit und musikalische Labsal ist derzeit im düsteren Sektor nicht zu finden. Und TAV lassen für die Zukunft auf noch so einiges mehr hoffen.

(8 Punkte)

 

A Beggar´s Dream of Death

Gepostet von Tav am Mittwoch, 2. Oktober 2019

 

https://www.facebook.com/tavband