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BOB DYLAN – Rough And Rowdy Ways

~ 2020 (Columbia Records) – Stil: Singer-Songwriter ~


Acht Jahre nach ´Tempest´ kredenzt Bob Dylan auf seinem 39. Studioalbum erstmals wieder Eigenkompositionen, obwohl sich bei Singer-Songwritern ohnehin die eigenen Lieder oftmals gar nicht so sehr von den Kompositionen unterscheiden, denen der Nobelpreisträger besonders in den vergangenen Jahren Tribut zollte und somit augenscheinlich völlig entspannt sein Alter genoss.

Mit 79 Jahren weckt Bob Dylan jedoch gerade in diesen Tagen der Pandemien und Straßenrevolten seine Jüngerschaft von Neuem auf, die jetzt jahrelang beschäftigt sein wird, jede Zeile und jedes Wort des Meisters zu decodieren und in einen historischen oder gesellschaftlichen Kontext zu bringen. Denn selbstredend sind die heutigen Erzählungen von Dylan vielmehr Geschichten, deren Fundus sich aus Vergangenem speist, anstatt wie zu seiner Hochphase eifrig das Tages- und Weltgeschehen zu kommentieren. Böse Zungen reden bereits von Scrabble-Spielchen für die „Generation Baby Boomer“. Denn mehr als zuvor fügt Dylan Wörter oder Personennamen in seine Lyrik ein, die dann bisweilen wie eine simple Aneinanderreihung von Begriffen erscheint. Die Kunst, diese zu verstehen, obliegt allein der Jüngerschaft. Schließlich betonte der Umschwärmte bei seiner Nobelpreisrede, dass seine Worte nicht überbewertet und überschätzt werden sollten, sie zum Singen und nicht zum Lesen bestimmt sind.

Indessen versammelt sich in diesen Tagen die „Generation Baby Boomer“ gemeinsam mit der „Generation X“ vor der Musikanlage und lauscht andächtig den Klängen und den Worten dieser acht Jahrzehnte geschmirgelten Stimme. Und diese Stimme, mehr als die einer ganzen Generation, verkündet zehn neue Lieder auf über 70 Minuten.

 

 

 

Ungewohnt besonnen beginnt Bob Dylan mit ´I Contain Multitudes´. Er legt Fährten zu Edgar Allen Poe oder William Blake, zu Songs von Carl Perkins und Gene Vincent und erwähnt MOTT THE HOOPLEs Single-Hit. Dylan gibt an, schnelle Autos zu fahren und kein Fastfood zu essen, doch die Zeile „I sleep with life and death in the same bed“ widmet er wohl nicht seiner selbst, sondern der Menschheit. Auch Beethovens Sonaten erwähnt er bereits hier („I’ll play Beethoven’s sonatas and Chopin’s preludes.“) und nochmals im finalen ´Murder Most Foul´ („Play the Moonlight sonata in F sharp.“). Und nur im Dylan´schen Universum macht die direkte Kombination von Anne Frank, Indiana Jones und den Rolling Stones einen Sinn.

Im Sinne der alten Dichter, die in weltberühmten Gedichten die Muse anflehten, ruft Dylan die ´Mother Of Muses´ sowie die älteste und weiseste der neun klassischen Musen, Kalliope, persönlich an. Wie einst Julius Caesar überquert Dylan außerdem im Blues den Rubikon, kein Weg zurück für ´Crossing The Rubicon´, oftmals gleichsam mit Referenzen zu eigenen Liedtexten.

Das Blues-Riff für die Annalen zückt urplötzlich ´False Prophet´, mit lyrischen Referenzen zu Ricky Nelson und Janis Joplin sowie Roy Orbisons ´Only The Lonely´. Zudem stellt sich Dylan in die Reihe der großen Musikgenies, wie den kürzlich verstorbenen Little Richard, bescheiden hinten an. In ´My Own Version Of You´ setzt er Stück für Stück ein Wesen wie einst Mary Shelleys Frankenstein zusammen. Bob Dylan als Doktor Frankenstein, garantiert der Traum aller „Baby Boomer“. Er beginnt mit der Zeile eines alten Blues-Songs, zitiert Shakespeare und später die berühmte Phrase „Hamlets“, erwähnt das „Scarface“ Al Pacino und „The Godfather“ Marlon Brando, das Klavierspiel des US-Musikers Leon Russell, die schwarzen Reiter der Apokalypse sowie Sigmund Freud und Karl Marx. Dem ´Black Rider´ widmet Dylan sogar ein eigenes, entrücktes Lied.

Im sentimentalen ´I’ve Made Up My Mind To Give Myself To You´ scheint die religiöse oder spirituelle Ader von Dylan neuerlich hervorzuschauen. So heißt es in der Bibel, gib dem, der bittet. Ein Song als Hingabe zu Gott? Oder ist dieser einfach nur ein bezauberndes Liebeslied? Am Geläufigsten dürfte für die Stammhörerschaft die Art und Weise eines ´Goodbye Jimmy Reed´ sein. Obwohl der angesprochene Jimmy ein Bluesmusiker war, oder genau aus diesem Grund, sind Religionen das Grundthema.

Es folgen die letzten, bereits jetzt legendären über 26 Minuten für die Ewigkeit, zuerst ´Key West (Philosopher Pirate)´, dann das Monumentalwerk ´Murder Most Foul´. Beide hieven die Scheibe ´Rough And Rowdy Ways´ erst auf ihr hohes Niveau. In ´Key West´, die westlichste Insel der Florida Keys, findet nicht zum ersten Mal ein US-Präsident Erwähnung, der wie John F. Kennedy ebenso ermordete William McKinley, derweil die Piratensender aus Luxemburg und Budapest laufen und „The Wizard of Oz“ Beachtung findet. Die Namen der Schriftsteller aus der Beat-Generation, Allen Ginsberg, Gregory Corso und Jack Kerouac, fallen ebenso wie die Blueser & Rock’n’Roller Louis Jordan, Jimmie Rodgers und Buddy Holly. Eine Affäre, eine Bar und eine Hochzeit mit einer Prostituierten, wie beim Propheten Hosea, führen nach Key West, zum Jungbrunnen „Fountain of Youth“ in Saint Augustine.

Das siebzehnminütige ´Murder Most Foul´ behandelt natürlich die Ermordung von Präsident John F. Kennedy im Jahre 1963 und dessen Nachwehen auf die Pop-Kultur, indes der Songtitel aus Shakespeares „Hamlet“ stammt. Da Dylans zweites Album und Erfolgswerk ´The Freewheelin‘ Bob Dylan´ 1963 erschien, kommen die zigfachen Fingerzeige und Erwähnungen von Musikern, Künstlern und Berühmtheiten seit diesem Jahr in ´Murder Most Foul´ einem Zeitraffer der Lebensgeschichte Dylans gleich. Neben den Feinheiten um das mysteriöse und tödliche Attentat auf John F. Kennedy erwähnt Dylan mehr als beiläufig den Song ´Wake Up Little Susie´ der EVERLY BROTHERS, ´Dizzy, Miss Lizzy´ (Larry Williams), ´I Want To Hold Your Hand´ (BEATLES), ´Tommy Can You Hear Me´ und ´The Acid Queen´ (THE WHO), ´What’s New Pussycat?´ (Burt Bacharach), ´Only The Good Die Young´ (Billy Joel), den Folk-Standard ´Tom Dooley´ und Jazz-Standard ´St. James Infirmary´, sowie „Woodstock“ und „Altamont“, die Filme „Goodbye Charlie“ und „Gone with the Wind“, sowie den DJ Wolfman Jack, der „Play John Lee Hooker“ und unzählige, weitere gern gespielte Lieder, die Dylan nun aufführt, im Radio spielen soll.

´Rough And Rowdy Ways´, bei Bob Dylan wohl nicht nur zufällig nach Jimmie Rodgers ´My Rough And Rowdy Ways´ benannt, ist ein gewichtiges Alterswerk, das in seinem letzten Drittel die kostbarsten Stücke von Bob Dylan aus den letzten Jahrzehnten offenbart.

(8 Punkte)

 

 

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