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EINSTÜRZENDE NEUBAUTEN – Alles in Allem

~ 2020 (Potomak / Indigo) – Stil: Dark-Post-Industrial ~


Die EINSTÜRZENDEN NEUBAUTEN spielen seit 40 Jahren einfach nur Töne, die ihnen schlicht und einfach in den Sinn kommen, und dies in einem experimentellen Musikstil, der sich längst dem Post-Industrial entsagt hat und ein weiteres Post angefügt hat.

´Alles in Allem´ ist ein markantes Spätwerk. Es sieht sich dennoch in der Entwicklungslinie der letzten, bereits ruhigen, regulären Studioalben. Es ist ein Alterswerk, das den Weg durch den Geist seiner Mitglieder wählt, allen voran durch die Träume und Gedanken von Sänger Blixa Bargeld. Aber nicht nur N.U. Unruh (Percussions), Alexander Hacke (Bass), Jochen Arbeit (Gitarre) und Rudi Moser (Percussions) trugen ebenfalls ihr Scherflein bei, sogar die hartnäckig am Leib der Band klebende Anhängerschaft konnte in Live-Webcasts ihre eigenen Einfälle zum Werk hinzusteuern. Und natürlich nutzten die Neubauten die Begriffe und Fragmente aus ihrem alten, eigens entwickelten Kartenspiel „Dave“.

Das Spiel des Konvertierens freier Gedanken in Worte und Texte treiben die EINSTÜRZENDEN NEUBAUTEN auch auf ´Alles in Allem´ voran. Ein persönlicher Streifzug durch das politische Biotop Berlins bleibt an den Erinnerungen des Gestern und so manch reeller Begebenheit kleben: ´Am Landwehrkanal´, am ´Grazer Damm´, im multikulturellen Viertel ´Wedding´ und im malerischen Fliegerviertel ´Tempelhof´. Doch nicht nur die Hauptstadt steht im Blickpunkt der Ur-West-Berliner. Auch den, mit ihren ´Taschen´ im Mittelmeer ertrinkenden Flüchtlingen widmet sich Blixa Bargeld. Obwohl jeder Text, erst recht bei all den schön bedachtsam aneinander gereihten Wort- und Satzfragmenten, erst im Auge des jeweiligen Betrachters einen Sinn ergeben dürfte.

 

 

Beschäftigt sich ´Ten Grand Goldie´ mit zehntausend Vertriebenen auf der Flucht vor dem philippinischen Vulkan Taal oder mit denen in unserem Lande, die als Ein- und Ausbrecher hingestellt werden? Beschäftigen sich die Neubauten ´Am Landwehrkanal´ mit Rosa Luxemburg oder doch mit sich selbst („Wir hatten tausend Ideen und alle waren gut.“) und dem Schabernack früherer Zeiten? Immerhin scheinen sie ihren Sound in ´Möbliertes Lied´ auf Vordermann bringen zu wollen. Nur was sind die magischen ´Sieben Schrauben´, die alles zusammen halten? Womöglich stehen sie im Zusammenhang mit der abstrakten Beschau, der Begehung der Studioflure im Titellied. Der ganz normale Wahnsinn des ganz gewöhnlichen Berliner Alltags spiegelt sich jedenfalls in ´Grazer Damm´ und ´Wedding´ wider.

Dass die Neubauten ihr erstes reguläres Studioalbum seit zwölf Jahren per Crowdfunding finanzierten, ist für die seit 2002 mit eigenen Finanzierungsmodellen arbeitende Band nicht mehr ungewöhnlich. Dass sie in der Gegenwart nicht so einfach auf einen Schrottplatz marschieren können, um sich wie einst von diesem neues Instrumentarium zusammenbasteln zu können, macht den EINSTÜRZENDEN NEUBAUTEN mehr zu schaffen. Elementar wichtig sind zumindest für die Hörerschaft die Nachhaltigkeitsindikatoren der zehn jungen Kompositionen, denn mindestens die Hälfte all dieser fangen bereits des Nachts im Kopf an zu summen, sofern die nächtliche Ruhe kurz zum Gedanken fassen unterbrochen wird.

Der Opener ´Ten Grand Goldie´ ist der erste, dezent an alte Post-Industrial-Zeiten erinnernde Ohrwurm mit einem mächtigen Groove, aus Metallblech und -federn gestaltet. Unter Berlins dunklem Himmel zeigt ´Am Landwehrkanal´ hingegen wie deutscher Folk, mit Holzlatten und Schlüsseln, funktionieren kann – und gar nicht so fern von ELEMENT OF CRIME. Ins Schwingen gerät ´Alles in Allem´ und setzt sich mit Harmonium und Vibraphon unwiderruflich fest. Selbst der Tanz in Slow-Motion ´Grazer Damm´ ist ein Aspirant für das nächste Klassiker-Set. Mit seiner Penetranz gelingt dies ´Wedding´ ohnehin.

Leichte Avantgarde zeigt sich durch Bohrmaschine oder Metallstange in einem ansonsten ruhig fließenden Lied mit dem Titel ´Zivilisatorisches Missgeschick´. Harfe, Cello und Violinen sorgen in ´Seven Screws´ für die vielfach anhaltende, bedächtige Stimmung, Violine und Cello, sowie natürlich ´Taschen´, obendrein für eine melancholische. Eine hängende Feder sorgt bei ´Möbliertes Lied´ für eine dunkel vibrierende Atmosphäre. Das Lied betont ihre Gottlosigkeit, haben doch die EINSTÜRZENDEN NEUBAUTEN „den Herrgottswinkel leer geräumt“ und beschwören: „Um Himmels Willen: Keinen Gott.“

Wer, des Alltags überdrüssig, gottlos oder fromm in die Geborgenheit der Musik entflieht, darf „Hier komme ich abhanden“ mitsingen, das Metall und der Schrott auf seinen Plätzen hingegen immer seltener.

(Fast essentielles Alteisen)

 

 

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