PlattenkritikenPressfrisch

THE WHO – Who

~ 2019 (Polydor) – Stil: Rock ~


Wer hätte das gedacht? Lächerliche dreizehn Jahre nach dem Flop ´Endless Wire´ veröffentlichen THE WHO ein neues Album. Zwischen ´Endless Wire´ und dem vorletzten Werk ´It’s Hard´ klaffte gar eine Lücke von vierundzwanzig Jahren. Trotz dieser Studio-Abstinenz waren THE WHO aber in den vergangenen Jahrzehnten nicht untätig, denn es wurde und wird ausgiebig getourt. Dabei haben die überlebenden Urmitglieder Pete Townshend und Roger Daltrey in Pino Palladino und Zak Starkey sehr starken Ersatz für die verstorbenen Kollegen Keith Moon und John Entwistle gefunden. Die Band wird zusätzlich von Petes Bruder Simon und weiteren Mitstreitern verstärkt. Da die Gruppe in dieser Konstellation so viel getourt ist und schon lange konstant zusammen spielt, würde ich Palladino und Starkey als vollwertige Bandmitglieder bezeichnen. Sie sind keine gut bezahlten Söldner, sondern tragen viel zum aktuellen Sound und dem neuen Selbstbewusstsein bei, dass sich im vorliegenden Alterswerk widerspiegelt. THE WHO sind 2019 eine Band und kein Duo-Projekt von Townshend und Daltrey.

Meine Erwartungen an das schlicht ´Who´ betitelte neue Album waren trotzdem gering. Daltrey und Townshend sind beide mittlerweile weit über siebzig und was kann man zwei Rock-Opas zutrauen, die in den seligen Sechzigern und Siebzigern durch perfekte Teenager-Dramen wie ´Tommy ´ und ´Quadrophenia´ bekannt wurden? Die Magie eines WHO-Albums entstand durch das grandiose Songwriting des kontroversen Querkopfs Townshend gepaart mit einer ungezügelten Aggression und Wildheit, die sich in geprügelten Gitarren, zerstörten Hotelzimmern und wildem Schlagzeugspiel manifestierte. Dieser jugendliche Sturm und Drang kann von Siebzigjährigen wohl kaum überzeugend dargestellt werden. Erst recht nicht, wenn dieselben Männer anno 1965 „Hope I die before I get old“ sangen und sich heute aber bester Gesundheit erfreuen. Dazu kommt, dass der Zahn der Zeit auch an Musikern nicht spurlos vorübergeht. Kann Pete noch inspirierte Songs schreiben? Was ist mit dem Tonumfang von Rogers Reibeisenstimme?

Mit dieser Angst im Hinterkopf (Können es meine Jugendidole nochmal bringen, oder wird das eher peinlich?) starte ich also die neue Platte:

1. All This Music Must Fade: „I don’t care, I know you gonna hate this song“ ist die erste Zeile, die wir von Daltrey hören. Hier ist sie wieder, die zynische Attitüde, die wir an der Band lieben. Und auch alles andere klingt nach THE WHO, das Rhythmus-orientierte Gitarrenspiel Townshends, Daltreys Stimme, die Rhythmusgruppe. Es ist ein WHO-typischer Rocker mit Call and Response-Chorus, der genau so gut auf ´The Who By Numbers´ stehen könnte. Die Magie ist da und die WHO schleudern uns ihre Einstellung direkt zu Beginn ins Gesicht: „We don’t mind“ und „We don’t care“, was ihr davon haltet, dass wir mit Siebzig nochmal ein Album rausbringen, die Musik wird eh verschwinden.

2. Ball And Chain: THE WHO stammen aus einer Zeit, als Rockmusik noch gesellschaftliche Relevanz hatte. THE WHO waren zu ihrer Blütezeit quasi die Gretas ihrer Generation. Also wundert es nicht, dass sich auch der Opa Pete Townshend noch bissige, politische Kommentare von sich gibt. Dieser bluesige Song erinnert an die Menschenrechtsverletzungen in Guantanamo. Zak Starkey trommelt hier genau wie der selige Moon, viel Crash-Becken, schöne Tom-Fills.

3. I Don’t Wanna Get Wise: THE WHO machen aus ihrem Alter keinen Hehl. Thematisch drehen sich die neuen Songs ums Älter werden und den Umgang damit. Man akzeptiert es manchmal nicht. Townshend war schon immer der Meister, der harmonisch interessanten Zwischenspiele, so auch hier ab „Experiment your universe …“. Man hört hier auch, wer das große Vorbild von THE CLASH war.

4. Detour: THE WHO hießen vorher THE DETOURS, eine Band, die von Daltrey gegründet wurde und zu der dann später auch Townshend stieß. Der vorliegende Song beschwört folgerichtig die Frühsechziger mit swingendem R&B, Doo-Wop und erfrischendem Upbeat. Gekrönt wird das Ganze wieder von einem wunderschönen Zwischenpart, in dem Daltrey zeigt, dass er auch noch Spitzentöne drauf hat. Der Song endet mit einer Reminiszenz an die berühmte Synthesizer-Linie aus ´Won’t Get Fooled Again´. So viel Energie hätte ich ihnen nicht mehr zugetraut. Bisher sind keine Totalausfälle zu verzeichnen, Im Gegenteil, alle vier bisher gehörten Songs sind bärenstark.

5. Beads On One String: Hier gehen THE WHO etwas vom Gas und servieren eine schöne Halbballade. Daltrey überzeugt auch hier mit softeren und nachdenklichen Tönen. Ein schöner Song, der aber weniger typisch nach THE WHO klingt. Er erinnert mich eher an 90er Jahre Alben von Sting oder U2.

6. Hero Ground Zero: Noch bombastischer, mit üppigen Streicher-Arrangements kommt ´Hero Ground Zero´ daher, das aber einen stärkeren, hymnischen Refrain offeriert. Stilistisch könnte das von ´Quadrophenia´ oder ´Who Are You´ stammen. Die Gitarre rockt und Starkey steigert die Dramatik mit schönen Fills. Ich kann mir diesen Track sehr gut im Stadion vorstellen. Sowas nennt man eine Hymne. Zusammen mit den zeitgeschichtlich relevanten Lyrics ein überzeugender Track.

7. Street Song: Ähnlich wie ´Beads On One String´ erinnert mich das hier etwas an U2, vor allem die Gesangslinie, ein mittelmäßiger Song, der im Mittelteil mit „Fire keeps burning“ wieder etwas interessanter wird, aber insgesamt einfach zu wenig nach THE WHO klingt.

8. I’ll Be Back: THE WHO hatten das Glück mit Townshend und Entwistle zwei alternative Lead-Sänger zu haben. Hier singt zum ersten Mal der Meister himself, Pete Townshend, und die Musik bietet eine willkommene Abwechslung: ein softer, wunderschön arrangierter Lovesong mit einem atemberaubenden Mundharmonika-Solo. Und im Zwischenspiel zeigt uns Townshend, dass er sogar jazzigen Soul liefern kann. THE WHO meets STEELY DAN, kein Scherz.

9. Break The News: Und wieder können die alten Herren überraschen. Eine fein gezupfte Akustikgitarre liefert die Basis für einen Song, dessen Refrain ohne Weiteres die amerikanischen Country-Charts aufmischen könnte. Die Melodie kommt möglicherweise etwas belanglos daher, aber lieber Country als U2, oder?

10. Rockin’ In Rage: Ha!, das klingt wieder nach THE WHO. Da sind sie wieder, die krachenden Gitarrenakkorde und ein Daltrey, der röhrt wie vor zwanzig Jahren. Ein Gitarrenriff erinnert etwas an ´Jumping Jack Flash´. Insgesamt aber überzeugt mich der Wechsel von Musical-artiger Strophe und wild rockendem Refrain.

11. She Rocked My World: Ein mysteriöser, spanisch-arabisch angehauchter Beginn führt den Hörer in den nächsten Song ein. Das Klavier dominiert die Begleitung und Daltrey schlägt ungewohnt leise und tiefe Töne an. Eine leise Erinnerung an eine alte Liebe vielleicht, an die sich der Held aber immerhin „noch erinnern kann“. Der Song ist definitiv kein Highlight des Albums, aber solide genug um nicht negativ aufzufallen.

Die Deluxe-Version von ´Who´ enthält noch drei zusätzliche Songs von Pete, die dieser alle selbst singt. THE WHO haben ihre Songs schon immer auf der Grundlage von Petes Demos entwickelt. Pete nimmt einen neuen Song in seinem Studio erstmal komplett alleine auf und stellt ihn so dann der Band vor, die auf Grundlage des Demos eine gegen Version entwickelt.

12. This Gun Will Misfire: Dieser Song ist für meinen Geschmack zu überladen, einzig das Schlagzeug kann überzeugen

13. Got Nothing To Prove:  Das klingt wie ein Outtake aus den Anfangstagen der Band, schöne Bläser und Streicher-Arrangements, der Gesang fällt demgegenüber leider ab. Hier hätte Meister Townshend besser daran getan Daltrey singen zu lassen. Trotzdem verbreitet der Song einen jugendlich-rotzigen Charme, den man mit Siebzigjährigen so nicht in Verbindung bringt.

14. Danny And My Ponies: Der letzte Bonustrack knüpft an ´Break The News´ an und verbreitet wiederum Country-Flair. Leider bewegt sich der Song überwiegend auf einem Akkord. Hier fehlt eine gute Bridge und der Refrain kann mich auch nicht mitreißen (Wo ist der eigentlich?).

Zeit für das abschließende Resümee: Die neuen THE WHO können auf ´Who´ an vielen Stellen an ihre glorreiche Vergangenheit anknüpfen. Das Album beginnt mit vier der stärksten Tracks, die überzeugend nach THE WHO klingen und zu keiner Zeit das Gefühl aufkommen lassen, dass man es hier mit einer Altersheim-Band zu tun hat. Auf der Haben-Seite können wir zusätzlich noch die Stadionhymne ´Hero Ground Zero´ und die wunderschöne Ballade ´I’ll Be Back´ verbuchen. Auch ´Rockin’ In Rage´ liefert nochmal den alten WHO-Vibe. Demgegenüber fällt der Rest des Materials etwas ab, wobei aber keine echten Nieten dabei sind. ´Beads On The String´ und ´Street Song´ wildern in 90er Jahre-Arena-Rock-Gewässern. Und ´Break The News´ glänzt weder mit WHO-typischen Merkmalen noch mit Originalität. Auf die Bonus-Tracks der Deluxe-Version kann man meiner Meinung nach verzichten. Aber nichtsdestotrotz halte ich hier das beste THE WHO-Album seit … lasst mich kurz nachdenken … ´Who Are You´ in Händen und das ist nicht nur Angesichts des Alters der beiden Hauptakteure eine unfassbare Leistung. Hope you record another album before you die …

(8 Punkte)


Autor Dirk Radloff ist Musiker, Songwriter, Arrangeur und Gründer des Progressive-Rock-Projekts HEARTSCORE.

https://heartscore.bandcamp.com/
heartscore @ spotify.com