PlattenkritikenPressfrisch

WESTERNHAGEN – Das Pfefferminz-Experiment (Woodstock-Recordings Vol.1)

~ 2019 (Polydor) – Stil: Rock ~


Marius Müller-Westernhagen polarisiert seit Jahrzehnten seine ehemalige und weiterhin treue Anhängerschaft. In den Sechzigerjahren stand er in der Formation HARAKIRI WHOM, sang bereits ´Mit 18´ ein und verdiente sich kleines Geld als Schauspieler. Zudem sprach er bei der Hörspiel-Produktion von „Wickie und die starken Männer“ die Hauptfigur.

Sein viertes Solo-Album ´Mit Pfefferminz bin ich dein Prinz´ brachte 1978 den ersten Großerfolg. Mit dem Film „Theo gegen den Rest der Welt“ wurde er 1980 über Nacht landesweit berühmt. Danach ging er durch Höhen und Tiefen. 1989 begann mit ´Halleluja´ seine erfolgreichste Zeit. Millionen an verkaufter Tonträger, ausverkaufte Konzerthallen- und Stadientourneen folgten in den Neunzigerjahren. Seit er sich nur noch WESTERNHAGEN nennt, wurde ihm bereits Arroganz und Ausverkauf vorgeworfen und der Titel „Armani-Rocker“ angeheftet, dabei projizierten alle fälschlicherweise den Kumpel „Theo“ auf die Person Marius Müller-Westernhagen.

Privat lebt Marius Müller-Westernhagen seit fünf Jahren mit Lindiwe Müller-Westernhagen zusammen. Heute will er bei keiner messianischen Massenveranstaltung mehr auf der Bühne stehen. Auch sein neuestes Projekt ist eine intime Produktion geworden. 41 Jahre nachdem er vom Liedermacher zum jungen Rock’n’Blueser mit dem Herz am rechten Fleck aufgestiegen ist, widmete er sich in der amerikanischen Zurückgezogenheit nochmals seinem Erfolgswerk ´Mit Pfefferminz bin ich dein Prinz´. In den „Dreamland-Studios“ fungierte sein langjähriger Mitmusiker Larry Campbell, zwischen 1997 und 2004 Partner von Bob Dylan, als Co-Produzent. Aus dem Gebäude einer ehemaligen Kirche brachte Müller-Westernhagen die feinsten Americana-Aufnahmen seiner wohlbekannten Songs mit: ´Das Pfefferminz-Experiment (Woodstock-Recordings Vol.1)´.

 

 

Und so sitzt Marius Müller-Westernhagen vor dem einstigen Kircheneingang. Ein dünner Hering, mit Cowboystiefeln und -hut, trägt keinen Cerutti-Anzug, aber gibt ebenso nicht mehr den Kumpeltyp von nebenan. Ob er einfach den Örtlichkeiten entsprechen wollte oder nicht, spielt keine Rolle. Ob er seit seinen „MTV Unplugged“-Sessions gefallen an reduzierten Songs gefunden oder ob ihn Wolfgang Niedeckens ´Zosamme alt´, ebenfalls mit Larry Campbell, inspiriert hat, bleibt den Gedankenspielereien seiner Anhängerschaft vorbehalten.

 

Das legendäre Eröffnungslied ´Mit 18´ begann einst mit Mundharmonika und ließ das Klavier klimpern, die Gitarre in Ekstase geraten und Marius‘ Stimmbänder schreien. Beim 2019er Experiment wird „one, two, three“ angezählt und die Akustikgitarre beginnt ihr Spiel. Marius erzählt und singt. Für Nachdruck sorgen Schlagzeug, Tambourin, Tom Tom und die Hammond. Die Schreie werden in druck- und kraftvolles Heraussingen umgewandelt.

Der Texte passen jedoch heute weitaus besser als zuvor („Jetzt sitz ich hier – bin etabliert und schreib auf teurem Papier, ein Lied über meine Vergangenheit – damit ich den Frust verlier“). Bei der Zeile „Ja, an Mädchen hat es uns nie gemangelt“, wirft Marius 2019 ein Lachen ein.

Ich möchte zurück auf die Straße
Möchte wieder singen, nicht schön sondern geil und laut
Denn Gold findet man bekanntlich im Dreck
Und Straßen sind aus Dreck gebaut

Rein musikalisch war ´Zieh dir bloß die Schuhe aus´ früher neben dem brillanten Text allein in seinem Rhythmus richtig einnehmend. Jetzt ist es ein Höhepunkt des Werkes. Mit Bongos und Farfisa Organ entsteht eine einzigartige Atmosphäre, die in den Strophen plötzlich wahlweise an ´It Never Rains In Southern California´ oder ´Über den Wolken´ gemahnt.

„Klaus, nun wehr dich doch, verdammt du träumtes doch, davon dein eigener Herr zu sein“ wirkt weit intensiver, derweil das Verhältnis mit Frau Schuh gar mit einem „oh la la“ quittiert wird.

Deine Mutter sagte: Klaus
Zieh dir bloß die Schuhe aus
Und dein Lehrer sagt,
Dass du fürs Leben lernst
Doch das Leben ist so fern

Im funkigen ´Willi Wucher´, über einen rheinischen Dealer und Zuhälter, konnte Marius immer seinen gepressten Gesang nutzen. Nun ist es eine schnelle SloMo-Nummer mit Wurlitzer Hammondorgel und Handclaps zum Ausklang geworden. Teresa Williams und Lindiwe Müller-Westernhagen singen, wie oftmals völlig unaufdringlich an einigen Stellen im Hintergrund. Die elektrische Gitarre schält sich zum Solo heraus. Von Unplugged-Sessions kann hier keine Rede sein.

Ich sah Willi nie mit Frauen
Und die Jungs erzählen sich Witze
Der Willi würd auf Knaben stehn
Besonders Griechen fänd er Spitze

 

 

Der dunkle Blueser mit Rock’n’Roll-Einschlag ´Oh, Margarethe´ verband wieder unprätentiöse Texte. Marius war frech, witzig und seine Texte vielfach kultig. Die Texte kannten wir in- aus auswendig.

2019 könnte die ´Margarethe´ ein Vorbote zu ´Johnny Walker´ sein. Noch dunkler und erdverbundener zeigen sich hier die Sounds des amerikanischen Landes.

Oh, Margarethe, gib mir die Knete
Und gibst du mir nicht die Knete
Dann rate ich dir – bete

Ein erst todtrauriges, dann hochgehendes ´Alles in den Wind´, bekämpft mit Bläsern und Hammond die Sucht des Alkohols und nimmt EXTRABREITs ´Junge, wir können so heiß sein´ in der Melodieführung vorweg. Fiebrig steigert es sich auch im Neuarrangement mit Akkordeon und akustischer Gitarre, zerbrechlicher und emotionaler als zuvor.

Du klagst mich an, Marie, und ich verspreche dir dann wieder
Kein Tropfen mehr – du sagst: alles in den Wind

Der Kultsong ´Mit Pfefferminz bin ich dein Prinz´ war ein echter Boogie-Rock-Kracher, dessen Texte in diesem Jahrzehnt so nicht mehr durchgehend zutreffend sind („Ich glaube an die Deutsche Bank, denn die zahlt aus in bar“). Früher war eh viel mehr Pfefferminz.

Etwas schwerfällig schleicht die Tanzaufforderung, mit Maracas in der Hand, nun daher. Eher ein schummriger Abgesang als ein Schwof zum Überleben.

Liebling, laß uns tanzen
hast du noch ’nen Pfefferminz
’nen Pfefferminz?

So, und nun gib mir ’nen Kuss
Mit Pfefferminz bin ich dein Prinz 
Mit Pfefferminz bin ich dein Prinz

Die missverständlicher Weise nie ironisch aufgefasste Hymne ´Dicke´, mit großartigem Gitarrenspiel, ist bis heute eines der größten Lieder von Marius. Seine heimliche Abrechnung mit Leuten, die ihn dünnen Hering nannten, prangerte die Vorurteile gegenüber den dickleibigen Menschen seines Umfeldes an. Vielleicht auch eine deutsche Antwort auf Randy Newmans ´Short People´.

Heute ist Marius immer noch die Bohnenstange und begeistert mit südländischer Gitarre, kräftiger Bass Drum und Shaker. Zum Songfinale ruft er frech „Conchita, koch mir das Chili con carne.“

Ich bin froh, dass ich kein Dicker bin,
Denn dick sein ist ’ne Quälerei
Ich bin froh, dass ich so’n dürrer Hering bin
Denn dünn bedeutet frei zu sein

 

 

Die Halbballade ´Giselher´ war voller Wehmut und Dramatik, nicht nur in der Stimme Marius‘. Geradezu schwebend singt Marius heuer in anderen Sphären und ist bis heute wild „auf dich“. Bedrohlich klingt die Pedal Steel. Die Lyrics über die Liebe und das Altwerden sind heutzutage gänzlich realitätsnah – beinahe dramatischer als das Original.

Die übliche Sonne ist immer noch rot
Und ich fühl mich wohl mit Giselher

Der Midtempo-Boogie ´Grüß mir die Genossen´ war ein Gruß an Denunzianten und willkürliche Polizeigewalt, zudem wurde die Entführung der „Landshut“ verarbeitet. Im 2019er Experiment steht der Groove des Americana-Sounds im Rampenlicht, Marius singt zackig zur altbekannten Melodie. Die letzten Textzeilen sind aktuell wie nie zuvor.

Wir tun nur unsere Pflicht, das Tor wird aufgeschlossen
Der Schließer sagt noch grinsend: Grüß mir die Genossen
Eines wird mir klar, wenn irgendjemand schreit, Gesetze müssen her
Dem hau ich auf die Flossen
Ja, eines ist mir sonnenklar,
Falls wir glauben sollten,
Terror könnt man durch Terror bremsen,
Dann sind wir bald wieder soweit.

Zu guter Letzt der Evergreen und Klassiker ´Johnny W.´, den sogar mein Tutor in der Oberstufe zum Besten geben konnte und als Alkohol-Verherrlichung durchgehen mag, außer man kennt diese Problematik aus dem Hause Westernhagen väterlicherseits. Mit tiefer Stimme sonort Marius seine unkaputtbare Hymne im Jahre 2019. Völlig laid-back singt er – und die Pedal Stell jault dazu:

Ich hab’s versucht, ich komme ohne dich nicht aus.
Wozu auch? Du gefällst mir ja.
Kein Mensch hört mir so gut zu wie du,
und Johnny, du lachst mich auch nie aus.

 

Natürlich wird es genügend Stimmen geben, die dem Original aus 1978 ungehört den Vorzug geben. Doch dies ist nicht die Intention. Das Original bleibt das Original. Das Ursprungswerk besaß schließlich die jugendliche Kraft und den Esprit eines aufstrebenden Künstlers. Die Neueinspielungen sind dagegen die Aufnahmen eines altersweisen Mannes, der seine Songs ohne Kalkül einer Frischzellenkur unterzog.

Das Doppel-Vinyl hat auf der D-Seite noch „Studiotalk“ zu bieten. Die CD/DVD-Version enthält die Videos zu allen Songs, allein die Fanbox zusätzlich die 90-minütige Dokumentation, mit Interviews (auch Joschka Fischer, Iris Berben, Hape Kerkeling, Jürgen Klinsmann u.v.m.) und Original-Aufnahmen der 70er Jahre. Ob ´Vol. 1` als vermeintliche Drohung oder frohe Ankündigung weiterer Teile zu verstehen ist, wird die Zeit zeigen.

´Das Pfefferminz-Experiment´ hat einen Geist erschaffen, der mit den „American Recordings“ von Johnny Cash unter der Leitung von Rick Rubin vergleichbar ist. Der „Pfefferminz-Prinz“ hat internationales Gewicht errungen und besitzt selbst im hohen Alter eine stattliche Größe, ob mit oder ohne Cowboyhut.

(9 Punkte)

 


Fotos: © Peter Badge