Micks Mush-RoomPlattenkritikenPressfrisch

RAMMSTEIN – Rammstein

~ 2019 (Rammstein / Universal Music) – Stil: Pop Metal ~


RAMMSTEIN bei Streetclip, muss das sein? Es muss nichts, aber es kann – und es verdient es.

Woodbridge, Virginia, USA, 16.5.2019. Es ist ein dufter Urlaub. Gestern wurde `Willenskraft` und `Operation: Mindcrime`  auf meiner Haut verewigt, heute schlürfe ich gemütlich mit meiner Liebsten und meiner geliebten Mutter ein paar alkoholische Himbeerbomben.

Wie aus dem Nichts werde ich – beiläufig im sozialen Netzwerk pickend – überrannt von der Meldung, dass das neue RAMMSTEIN-Album raus ist. Voll verdrängt, die Heimat ist sechs Stunden weiter und bereits versorgt. In einer Art Panikattacke bestelle ich das Doppelvinyl, lade den Inhalt auf meine elektronische Hirnunterstützung runter, gebe meiner Karin einen Gutenachtkuss und erkläre ihr liebevoll, aber bestimmt, dass ich ab jetzt nicht mehr ansprechbar bin. Den zu erwartenden Sound muss heute Nacht der Bose-In-Ear liefern. Und das macht er gut.

Ich liege im Bett, war eigentlich hundemüde und angetrunken, aber nach drei Songs überkommt mich die Lust, das Erlebnis der Musik zu steigern mit einem Genussmittel in Form eines Dampfers. War es beim dritten Durchgang des endlosen Videoschauens damals ein Whisky, so begnüge ich mich mit dem elektronischen Ersatz einer feinen Zigarre. Nein, THC Liquid habe ich immer noch nicht, eine Bewusstseinserweiterung benötigt das bisher Gehörte auch keineswegs.

So starre ich also dampfend aus dem Schlafzimmerfenster und harre der Lindemann’schen Lyrik zwischen lächeln, hörbuchmäßiger Spannung, Begeisterung und schockiert sein. Es ist mittlerweile weit nach Mitternacht und der zweite Komplettdurchgang läuft. Ich entschließe mich, den Dritten auf morgen zu vertagen und das Gehörte – erneut ins Bett zurückgekehrt – auf mich wirken zu lassen. Die Wirkung hält auch am nächsten Morgen an, die Begeisterung – komplett ausgenüchtert – erst recht.

Rage for order – der Versuch einer Gliederung meiner Eindrücke:

EINS

Deine Liebe ist Fluch und Segen
Meine Liebe kann ich dir nicht geben?

Die Rückkehr zur Elektronik mit der ANNE CLARKE-Reminiszenz ging mir mit dem opulenten Video schon ab wie Vaseline auf Eiskrem, über die textliche Aussage müssen keine Worte mehr verloren werden. Richard darf hier seine bereits mit seinen EMIGRATE-Solowerken gezeigte Fähigkeit als Sänger im Background ausleben. Ein kritisches Liebeslied über die Heimat, das hier im Land des nicht hinterfragten Patriotismus doppelt wirkt. Der bombastische Dampfhammer für die Massen, der live seine Wirkung nicht verfehlen wird. Als Bonustrack hätte ich mir dazu noch die Videoversion mit dem fast ebenso langen ´Sonne´-Klassikoutro gewünscht.

ZWEI

Jede Nacht und wieder flieg ich einfach fort mit der Musik
Schwebe so durch alle Räume, keine Grenzen, keine Zäune

Das fleischgewordene ´Radio Gaga´ der Vergangenheit unseres einst geteilten Landes mit fetten KRAFTWERK-Zitaten. Musikalische Freiheit erleben hieß auf der einen Seite der physischen und psychischen Mauer Heimlichkeit, das Radio selbst hatte in dieser Zeit in Ost und West jedoch gleich immense Bedeutung für den angehenden Musikliebhaber. Rammstein at it’s best mit Paul & Richards messerscharfen Hüpf-und Tanzriffs, die man so liebt und mächtig Hit-Appeal. Ein ungewohnt melodisches Liebeslied über die grenzensprengende Kraft der Musik und ihres damaligen Sprachrohrs, dem guten, alten Radio.

DREI

Als Versehen sich an Kindern vergehen
Verbreiten und vermehren im Namen des Herren

Die Abrechnung mit dem organisierten Glauben und der damit einhergehenden Korruption aller großen gesellschaftlichen Ordnungsorganen. Das schreit nach Metal plus Stakkatoriffs und bekommt es auch. Ein weiterer typischer RAMMSTEIN-Brecher. Ein Anti-Liebeslied für die Institution Kirche, die über ihren Heiland predigt, ihn aber längst nicht mehr im Herzen trägt, jedoch zumindest langsam anfängt, eigene Verbrechen zu hinterfragen. Episch opulent mit coolem Bassintermezzo und unheimlichen „Das Omen“ Chören.

VIER

Ja, mein Sprachschatz ist nicht schlecht
Ein scharfes Schwert im Wortgefecht mit dem anderen Geschlecht

Ha! Jetzt haben sie gerade mal alle inklusive mich an der Nase herumgeführt. Ich sitze hier halbnackt vorm geöffneten Fenster und muss nun echt lachen. Wer bei dem Titel ein kritisches Statement über Einwanderung erwartet, lernt statt dessen ein weiteres Mal den humoristischen Liebespropheten Till als Mann von Welt und wortgewandten Gigolo kennen, der nur eines im Sinn hat: Verführung. Ein Charthit-Liebeslied über die schönste Sache der Welt auf internationalen Pfaden und sozusagen das Vorspiel für den nächsten Song:

FÜNF

Wir leben nur einmal – wir lieben das Leben
Wir lieben die Liebe – wir leben … bei Sex!

Im relaxten ´Personal Jesus´ Rhythmus von Christoph „Doom“ Schneider darf ein weiteres Mal mit einem Liebeslied über die schönste Nebensache der Welt sinniert werden und Flake darf einen wirren Keyboardorgasmus erleben. Anfangs der einzige Ausfall der Platte, nach mehrfachem Hören aber einfach mal sehr entspannend und…wie soll ich sagen? Friedlich und putzig. Entspannt einfach, wie Sex nun auch mal sein kann.

SECHS

Und dann reiß‘ ich der Puppe den Kopf ab, dann reiß‘ ich der Puppe den Kopf ab
Ja, ich beiß‘ der Puppe den Hals ab, es geht mir nicht gut

Das unheimlichste Lied der Platte und eine der extremsten, intensivsten Psychoausbruchleistungen des Herrn Lindemann mit sich vor Verzweiflung fast überschlagender Brüllstimme, die man so in der Vergangenheit nur bei Dero von OOMPH! oder Rig von JANUS gehört hat. Man hofft nur, dass es sich um wahnsinniges Schauspiel handelt und nicht etwa wie gerade bei Dero auf autobiografischen Erfahrungen basiert. Was für eine brutale Geschichte über die dunkelsten Stunden der Liebe, wenn nur noch animalisches Verlangen und Trieb bleibt und gewaltsam auf Unschuld trifft.

SIEBEN

So halte ich mich schadlos – lieben darf ich nicht
Dann brauch‘ ich nicht zu leiden und kein Herz zerbricht

Die Angst, das Geliebte zu verlieren hat auch mir schon fast alles versaut. Ein nachdenkliches, langsames, eindringliches Lied über den Selbstbetrug, sich dem Glück zu versagen, um nicht mit den Schmerzen konfrontiert zu werden, kann nur von jemandem geschrieben werden, der oft verletzt wurde. Klasse musikalische Ideen, die RAMMSTEIN sehr gut zu Gesichte stehen und textlich thematisch Hand in Hand mit der Folgenummer ein tiefes, emotionales Doppel ergibt:

ACHT

Wie ein Juwel, so klar und rein, dein feines Licht war mein ganzes Sein
Wollte dich ins Herzen fassen, doch was nicht lieben kann, muss hassen

Oliver und sein zartes Bassspiel bereiten wie einst beim ´Seemann´ den fruchtbaren Boden für eine intime Ballade über unerfüllte Liebe und nicht erwiderte Gefühle. Ohne irgendwann mit dem textlichen oder musikalischen Vorschlaghammer zuzuschlagen, lebt dieses Lied alleine von Bass, Orchestration und Tills unglaublich gefühlvoller Stimme. Wow.

NEUN

Der Atem stockt, das Herz schlägt wild, malt seine Farben in ihr Bild
Steht er da am Fensterrand, mit einer Sonne in der Hand

Achtung, Achtung. Lasst es euch von mir gesagt sein: Das ist ELOY auf Metall! Ein weiterer musikalischer Quantensprung in heimische, sphärische Gefilde der Kraut-Elektronik. Ein episches Liebeslied über unerfüllte Hoffnungen und Sehnsüchte des Alleineseins – ebenfalls sehr gefühlvoll vorgetragen.

ZEHN

Deinen Namen stech‘ ich mir dann bist du für immer hier
Aber wenn du uns entzweist such‘ ich mir jemand, der genauso heißt

Augen auf bei der Partnerwahl oder: Nur mit klaren Gedanken und gut überlegt seinen Körper dem Künstler anvertrauen, ist die Devise. Ein episches Independent-Liebeslied über Körperkunst, welches möglicherweise nur derjenige vollständig würdigen kann, der – wie ich rein zufälligerweise gestern wieder ausgelebt – ein Faible für diese Art der Verschönerung innehat. Doch für diese Klientel ist es schlichtweg die neue Tattoohymne inlusive Betty Page-Engels-Chören.

ELF

Gib mir dein Wort, nimm meine Hand, wir bau’n was Schönes aus Haut und Sand
Nichts wird danach wie früher sein – sprich nicht zu mir, steig einfach ein

Das Thema Pädophilie zieht sich wie ein roter Faden durch das RAMMSTEIN’sche Gesamtwerk. So auch hier beim unheimlichen, jedoch wunderschönen, unbrutalen Liebeslied für krankhafte Zwangstäter. Die sprachlos machende Schockstarre erreicht neue Dimensionen, wenn zur friedlichen Musik die Schreie des unschuldigen Opfers von Flakes Keyboard intoniert werden. Und doch hinterlässt gerade ein solcher Abschlusstrack mich – bestimmt kalkuliert – ganz ruhig und im Grundtenor positiv-harmonisch, sodass die anschließende Stille Raum und Zeit zum Nachdenken gibt. Die musikalische Schwester von ´Rosenrot´.

Diese Lieder live umgesetzt würden die Band weg von ROCK AM RING oder WACKEN wieder zurück zu Festivals führen, wo alles begann: BIZARRE – Mist, gestorben –  ZILLO – Shit, verblichen – dann halt doch auf’s große Freidenkertreffen M’ERA LUNA. Vielleicht würde der ein oder andere metallische oder mainstreamige Wegbegleiter der letzten Jahre seinen Horizont dabei erweitern. Just sayin‘.

Die pure Provokation hat Till Lindemann mit Peter Tätgren vollends ausgelebt. Zweiundzwanzig Jahre nach dem Magnum Opus der Bandhistorie stillen RAMMSTEIN in immer noch gleicher Besetzung meine `Sehnsucht` mit einem sehr persönlichen, spannenden, neue Wege beschreitenden, extrem unterhaltsamen und musikalischen Album, welches nicht die provokante gesellschaftskritische Brisanz von OOMPH!s diesjährigem Paukenschlag im `Herzeleid` trägt, mein Haupt aber auf meiner `Reise, Reise` im Exil meiner `Mutter` gar `Rosenrot` erstrahlen lässt. Wenn auch zehn Jahre ins Land ziehen mussten, ist nun eines immer noch klar: `Liebe ist für alle da`…

(9,9 wiederentflammte Herzen)

Less Leßmeister

 

 

Wir schreiben das Jahr 2019. Staaten sind untereinander verhasst, die Menschen abgelenkt. Es ist Vollmond. Interrail-Logbuch No. 747. Das Warten hat ein Ende, die Uhr schlägt Mitternacht. Es ist kalt, wolkenverhangen. Feierlich klappe ich meinen Rechner auf und lade mir das neue Album von RAMMSTEIN aus dem Netz. Die Special-Edition sollte dann heute Mittag im Briefkasten liegen, auch hier am Ende der Zivilisation, Prussia Cove.

Alles in Weiß, der Tisch ist gedeckt, die schönsten Leinen liegen hier im Wohnbereich, anderswo die reinsten Laken auf. Streichholz für Streichholz legen wir auf den Stoff, vorsichtig, denn zündeln wollen wir nicht. Durchnummerierte Pilze aus der Grafschaft bilden einen Kreis. Enge Bekanntschaften sind um den rustikalen Tisch versammelt. Jeder mit seinem Lieblingsgetränk in der Hand. Die Spannung steigt. Süßlicher Rauch liegt in der Luft. Ich nehme einen tiefen Atemzug. Einige Kerzen spenden für unsere feierliche Zeremonie ausreichend Licht. Fenstertüren stehen offen, bitten eine Meeresbrise um Einlass. Nun ist der Moment gekommen. Die Stille wird jede Sekunde von Blitz und Donner unterbrochen werden.

 

 

Das siebte Werk der von Millionen gehassten sowie geliebten RAMMSTEIN ertönt aus den Lautsprechern. Das erste Streichholz liegt auf dem Tisch. Das Video zum neuen Deutschlandlied haben alle von uns im Kopf, ein vor wenigen Wochen im Vorfeld veröffentlichtes Meisterwerk visueller Kunst. ´Deutschland´ eröffnet dementsprechend ebenfalls dieses selbstbetitelte Album und natürlich ist die Eröffnungssequenz des Liedes mehr als offensichtlich an Anne Clarks Song ´Our Darkness´ aus dem Jahre 1984 angelehnt. Doch die Gitarren holen die Heavyness ins Haus und leihen sich alsbald das ´Thunderstruck´-Riff von AC/DC aus. Mächtig besingen RAMMSTEIN die Liebe und den Hass zu ihrem Vaterland, brillant der Widerhall des Gesangs durch Backgroundgesänge. Sie thematisieren den Zwiespalt eines ganzen Volkes. Bekanntermaßen ist es diesem Land seit über 70 Jahren nicht gelungen, eine Liebe zu sich selbst aufzubauen. Der Zweifel liegt in der DNA Deutschlands. Eine symbolträchtige Bestandsanalyse. Das Klavier zum Ausklang des Liedes zeugt von Vergänglichkeit und trägt den Hall der Ewigkeit in sich. Unser Abend endet mit endlosen Diskussionen über Deutschland, Gott und die Welt. Ein feuchter Dunst liegt in der Luft. Es ist ein schier unmögliches Unterfangen, zu diesem Thema Einigkeit herzustellen.

 

 

Tag und Nacht werden in Prussia Cove eins. Dennoch geht die Sonne irgendwann auf. Aus den Kissen und Laken räkelt sich neben mir Kaia heraus. Ich schaue in ihre Augen und sehe ein Glänzen. Hände und Beine bewegen sich, tasten sich gegenseitig ab. Vogelgezwitscher ist vor dem Fenster, melodisches Brummen aus dem Bad zu vernehmen, jemand hat dort das Radio angelassen. In einer kurzen Phase der Regungslosigkeit springe ich auf und beende das Krächzen aus dem Äther. Stunden später sind wir zum ersten Mahl des Tages wieder alle beisammen, trinken, rauchen, reden und klönen, stehen und sitzen um einen gedeckten Tisch. RAMMSTEIN drängt aus den Boxen. Ein weiteres Streichholz kommt hinzu, es kreuzt das erste. Die Keyboards pulsieren, die Riffs sind von monolithischer Natur. Tastenklänge aus der Düsseldorfer Schule untermalen diesen neuen ´Radio´-Hit. Ein klassischer Stechschritt-RAMMSTEIN-Beat begegnet Wellen aus dem ´Radioactivity´-Äther von KRAFTWERK. Gedanklich sehen wir Sänger Till Lindemann mit seinem Ohr am Weltempfänger hängen, keine Rede vom Volksempfänger. Auf diese Art wurde zu DDR-Zeiten unbekanntes, verbotenes und fremdartiges Liedgut aufgesaugt. Keine Möglichkeit, über bundesdeutsche Autobahnen wegzufliegen. Ein zeitgeschichtliches Mahnmal, auch gegen Zensur und Unterdrückung. Kein ´Radio brennt´, aber ein wachsender Ohrenschmeichler. Ein leises Raunen geht durch den Raum, die Gefährten schauen gebannt auf den Tisch mit den Streichhölzern, geradewegs als würden sie verlorenen Blickes auf ein Radio starren. Gedanken verlieren sich in weit hinter uns liegenden Zeiten, kein Musikliebhaber hört 2019 Radio. Die Asche kann vergraben werden.

 

 

Wir stehen auf dem Petersplatz in Rom. Interrail, es geht voran. Die letzte Nacht war kurz. Ein neuer Tag bricht an. Es ist Sonntag. Derweil jemand aus der Gruppe über zwei parallel liegende Streichhölzer auf einem schneeweißen, hier vor uns ausgebreiteten Laken ein drittes nach Norden zeigen lässt, werden lateinisch anmutende Wörter, fälschlicherweise für Kruzifix und Licht, gebraucht und ausgesprochen. Eine brodelnd wehende Stimmung schallt aus unserem Boxen-Equipment, nicht aus den Lautsprechern des Petersplatzes. RAMMSTEIN bitten, ihrem Songtitel ´Zeig Dich´ nach, um päpstliche Audienz. Weder der emeritierte Benedikt XVI. noch sein Nachfolger Papst Franziskus erscheinen. ´Zeig Dich´ gerät zur unvermeidlichen Kirchenkritik auf metallischem Terrain, auf ihre fleischlich-animalische Art. Eine tiefe Lindemann-Stimme und Gregorianische Chöre singen, Menschen werden zu Heavy-Riffs gequält. Dennoch liegt es in der Natur dieser armen, kleinen, menschlichen Seele, dass selbst atheistischste Geister und die Gruppe RAMMSTEIN in diesen Zeiten ohne Licht letztlich auf Ihn, den Einen, der sich zeigen soll, warten. Licht und Hoffnung bleiben. Amen.

 

 

Über den gekreuzten Streichhölzern liegt nun auf strahlendem Weiß eines quer und eines längs darüber. Plötzlich rauscht an uns ein Papamobil vorbei. Aus dem Augenwinkel heraus sind weiterhin im Fahrtwind wehende, weiße Gewänder zu erkennen. Eine Gruppe Menschen nähert sich uns. Wir kommen ins Gespräch, mit Händen und Füßen versuchen wir, uns mit den Einheimischen zu verständigen. Wir landen gemeinsam in einem Café, wandern weiter ins Jerry Thomas Speakeasy und leben das Leben. Fanfaren Keyboards geleiten krachende Beats. In der Weltstadt Rom ist das neue RAMMSTEIN-Werk ebenfalls bereits angekommen. ´Ausländer´ schallt in unser Ohr. Es ist selbstredend keine Gesellschaftskritik, sondern die gewohnt anrüchige Erlebnisgeschichte einer Very Important Person. Till Lindemann stellt sich mit Augenzwinkern als Don Juan im Bett der Frauen aller Länder dar. „Du kommen mit mir, wir machen gut!“, gibt er sich obendrein witzig wortgewandt im Ausklang. Derweil entfernen sich urplötzlich Winfried und Siegfried aus unserem Kreise und entschwinden mit zwei brünetten Damen in die Dunkelheit.

 

 

Die Laken frisch bezogen, hat sich unsere gesamte Gesellschaft in der Zwischenzeit längst auf ihre Hotelzimmer zurückgezogen. Unser Zimmer hat einen kleinen Balkon, den der Vollmond fast taghell erleuchtet. Einige Nüsse auf dem gefliesten Boden haben ein Eichhörnchen-Pärchen angelockt. Die Türen stehen offen, so dass wir sie vom Bett aus beobachten können. Trotzdem zieht Kaia das dünne Laken über uns, damit wir vor fremden Blicken gefeit sind, selbst wenn es nur Eichhörnchen sind. Zuerst spielen wir mit unseren Streichhölzern. Ein Streichholz quer, vier andere spreizen ihre Köpfe in vier Ecken. Ist diese Anordnung ein Stellungshinweis? Draußen knacken kleinen Gestalten weitere Nüsse. Schon wieder ist das Radio im Badezimmer an. RAMMSTEIN erklingt aus dem voreingestellten, italienischen Sender. Es kommt zum ´Sex´. Rechts neben uns Winfried, links neben unserem Zimmer Siegfried – und ihr weiblicher Anhang. Die Sirenen-Glöckchen-Hymne auf das schönste Laster des menschlichen Körpers untermalt die nicht zu überhörenden Laute aus den Nebenräumen. Bekanntlich lieben alle das Leben, die Liebe und den Sex. Coitus interruptus? Heute nicht. `Sex´ läuft in Dauerschleife. Obwohl sich der eine oder andere im leicht abflachenden Spannungsaufbau des gesamten Albums ergeben kann.

 

 

´Sex in der Wüste´ war vorgestern, gestern ´Sex´ in Rom. Die Ewige Stadt erwacht, ein neuer Tag bricht an. Das Eichhörnchen-Paar kuschelt, ehe eines dem anderen scheinbar ein Küsschen auf die Wange drückt, noch kurz – wie Till – zum Abschied in das Geschlecht des anderen schaut und vom Balkon hüpft. Sogar die Herren im Nachbarzimmer scheinen bereits alleine zu sein, klopfen sie doch mit den restlichen Weggefährten an unsere Zimmertür. Es ist bereits später Vormittag, die Nacht war zu kurz für etwas Schlaf. Aufbruch, Abfahrt, Streichhölzer zählen, Streichhölzer legen. Dreizehn Stunden später sind wir in Wilhelmsbad. Neben dem Karussell im Park, dem Wilhelmsbader Kleinod, breiten wir unsere Decken aus. Ein weißes kommt in die Mitte. Ein Streichholz quer, zwei parallele Hölzer von einem längs gekreuzt sowie zwei im Winkel nach rechts. Unsere Boxen beschallen den Park, unangeleinte Hunde rennen um uns herum. Angst haben sie keine. Wir schlendern hinüber zum Puppen- und Spielzeug-Museum. Till schreit sich zu ´Puppe´ jedes Geröchel aus dem Hals. Eine dramatische Szenerie wird beängstigend stark umgesetzt. „Dam, dam“, ruft aber nicht Drafi Deutscher aus dem Hintergrund. Im Museum angekommen wandeln wir durch die Flure, derweil Lindemann den kranken Jungen gibt, dessen Schwester nebenan ihre Freier empfängt. Einer der Höhepunkte des gesamten RAMMSTEIN-Albums. Knall auf Fall drehe ich mich zu meinen Gefährten um und werde Zeuge eines unglaublichen Schauspiels. Zu meiner Linken reißt Bruder Jakob geradewegs einer antiken Puppe der Kopf ab, er beißt ihr den Hals ab und zu meiner Rechten wird im Ablenkungsmanöver die Museumsaufsicht befriedigt. Kranke, lüsterne Männer. Zum Glück habe ich ein trockenes Streichholz in der Tasche, eines reicht aus.

 

 

Rauch und Wolken, ich sehe uns nur rennen, rennen und rennen. Durch die Unterführung hetzen wir an unser Gleis, denn unser Zug fährt in wenigen Minuten ab. Wir sind Interrail, nehmen den Nachtzug nach Prag. Ein letzter Absacker auf den Tag führt uns nochmals alle zusammen. Wir lieben den Tag und das Leben. Ein weißes Laken wird aus einer Reisetasche geholt und ausgebreitet. Zwei Streichhölzer gekreuzt, zwei als Kreuz und drei zeigen nach Norden. Die Musik liefern natürlich RAMMSTEIN und sie zelebrieren in ´Was ich Liebe´ eine manisch in die Höhe treibende Atmosphäre. Der Nachtzug nimmt Fahrt auf und rattert durch die Dunkelheit. Die Nacht wird lang und unendlich. Kurz vor und nach der musikalisch einsetzende Druckwelle suhlen sich die Töne im ´Stairway To Heaven´. Lieblich. Ich nehme einen kräftigen Zug von der herumgereichten und nicht industriell hergestellten Zigarette. Die Welt ist schön, die Welt ist blau und grün.

 

 

In unserem Schlafabteil angekommen, beginnen Kaia und ich wieder unser eigenes Spiel. Ein Streichholz-Kreuz lege ich auf dem Laken ab, zwei weitere gekreuzte Aufstellungen sowie zwei einzelne zeigen leicht nach rechts und links. Passend zur vorangegangenen Liebes-Komposition folgt aus unserem Ghettoblaster die kleine Ballade ´Diamant´. Akustikgitarre, Geigen und Flöten tönen in der Geräuschkulisse. Versunken in Lied und Situation singe ich mit: „Du bist so schön, so wunderschön, ich will nur dich“. Eng umschlungen, küsse ich Kaia wie ich sie schon lange nicht mehr geküsst habe. Ein niemals endender Moment lässt unsere Lippen aneinander kleben, obwohl es nicht an Trockenheit und Befeuchtung mangelt. Ihre Zunge nimmt meine Mundhöhle ein, ich die ihre. Der Mond leuchtet, unsere Augen schimmern. Wie zwei blank glitzernde Diamanten liegen wir unter dem tiefen Dach des Nachtexpress. Im Gegensatz zur festen und zusammengedrängten, dichten Bindung von Diamanten können wir uns gegenseitig umschlingen, so dass kein Luftzug zwischen uns passt. Wir werden eins. Ein ´Diamant´ im Mondlicht.

 

 

Gegenüber unserem Schlafplatz legt ein anderes Paar je drei Streichholzpärchen als X ab, zwei darunter und eins darüber. Keyboard-Klänge aus der Hannoveraner Schule bestimmen die Schönheit des nächsten Liedes aus dem Ghettoblaster. Die Nacht klingt niemals aus, die Fahrt wird nicht enden. Immer weiter von Zuhause weg. Der RAMMSTEIN-Song ´Weit weg´ ist ein relativ schlichter Song, der dennoch eine nicht zu leugnende Klasse aufweist. Weit weg und doch so nah ist kein Gefühl, das mich gerade beschleicht. Vielleicht umschreibt es gerade Julia und Fred ganz gut, beglückt er unterdessen seine auf Knien posierende Lady unfahrplanmäßig.

 

 

Stunden später schaue ich mich um, auf dem Boden, auf allen Schlafstätten liegen nackte Leiber. Die meisten von ihnen rühren sich kaum, selbst ein Stöhnen ist nicht mehr zu vernehmen. In dieser Stille schreitet ´Tattoo´ mehr als klassisch in RAMMSTEIN-Manier voran. Ich greife nach meinem Streichholzpäckchen. Drei Streichhölzer als Stern, eins darüber, vier darunter, einer davon zeigt nach links, einer nach rechts, zwei weitere gekreuzte am Fuße der Stellung. Jetzt wird es kompliziert. Wenn bei dieser energiegeladenen Musik niemand aufwacht, ist er tot. Das Sextett singt über die Schönheit des Körper-Kultes, über die Botschaften auf der eigenen Haut, über die Briefmarkensammlung des neuen Jahrtausends, die sich gegenseitig gezeigt wird. Hier offenbart momentan keiner mehr dem anderen seine Körperbilder, die Körperbegutachtungen fanden längst in den letzten Stunden mit Händen, Augen und Zunge statt. Jetzt wacht der eine oder andere tatsächlich wieder auf. Finger wandern über Hautpartien, umspielen Lippen und Falten im Norden als auch Süden. Finger malen Bilder nach, an Armen, Rücken und Beinen, wandern letztlich jedoch lieber zu Nippeln und Gliedern.

 

 

Morgens um kurz nach halb sieben ist die Fahrt vorbei. Frisch gestriegelt und adrett herausgeputzt stehen wir am Bahnhof. Interrail-Finale. Wir schwärmen aus, um ein schönes Café zum Frühstücken zu finden. Golden schimmert die Stadt, die Sonne erfreut unser Herz. Ein wunderschönes Café mit nostalgischen Sitzgelegenheiten lädt zum Chillen ein. Unsere Mission ist jedoch längst nicht beendet. Kurz vor Mittag breiten wir unser letztes reines Laken zu den Füßen des Palais Czernin aus. Fünf Streichhölzer bilden links wie rechts eine Figur, dazwischen ein einzelnes. Zum letzten Gefecht besingen RAMMSTEIN den ´Hallomann´. Zu einer todtraurigen und schrecklicherweise todschönen Melodie outet sich dieser als Kinderschänder. Mitreißend in allen Belangen. Wir lassen das Laken liegen, schnüren unser Bündel und gehen durch den Portikus ins Innere. Gemeinsam wechseln wir das Stockwerk, laufen zielstrebig entlang der weiträumigen Flure und Gänge. Wir treffen auf einen hageren und älteren Mann, nehmen ihn von beiden Seiten unter die Arme und bewegen uns in die Richtung einer Fensterfront. Balkontüren gehen auf und wir stehen auf dem Vorsprung, mustern die Brüstung. Entschlossen nähern wir uns dieser und schubsen den ´Hallomann´ in die Tiefe. Ihm rauschen in diesen letzten Lebenssekunden von neuem ´Hallomann´, ´Puppe´ und ´Deutschland´ durch den Kopf.

(8,5 Punkte)

Mick Shark

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Photo-Credit: Jes Larsen