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DEAD CAN DANCE – Dionysus

~ 2018 (PIAS Recordings) – Stil: World Music ~


Der griechische Gott des Weines, der Freude, der Trauben, der Fruchtbarkeit, des Wahnsinns und der Ekstase hört auf den Namen Dionysos, latinisiert Dionysus. In der Literatur ist er als Sorgenbrecher auch unter den Bezeichnungen Lysios oder Lyäus bekannt. Die Griechen nannten ihn ebenso Bromios, den Lärmer, und die Römer Bacchus, den Rufer. Obwohl durch die Christianisierung des Abendlandes die religiösen Praktiken um den jüngsten der griechischen Götter unterdrückt wurden, finden auch heutzutage viele Frühlings- und Erntefeste unter dem Einfluss Dionysos statt. Auch das Adjektiv „dionysisch“ hat seit Jahrzehnten seinen Einzug in den Sprachgebrauch gefunden. Seine Bedeutung wird im Duden als „rauschhaft, ekstatisch“ umschrieben, früher mit dem Zusatz „nach Nietzsche“.

In der Philosophie wird seit dem 19. Jahrhundert von dem bipolaren Begriffspaar „apollinisch-dionysisch“ gesprochen. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling und Friedrich Nietzsche waren die treibenden Kräfte, in der Literatur- und in der Kunstgeschichte andere sogar schon früher. Anhand der den griechischen Göttern Apollon und Dionysos zugeschriebenen Eigenschaften umreißt „apollinisch-dionysisch“ die gegensätzlichen Charakterzüge des Menschen. Seinen Einzug fand das Wort „dionysisch“ in den Vereinigten Staaten von Amerika erst über Wissenschaft und Literatur in den Sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Insbesondere der Psychiater Timothy Leary setzte seine religiösen LSD-Feiern in Beziehung zu Nietzsches Dionysischem. Hierzulande haben sich Dichter, Psychologen oder auch Germanisten – Hugo von Hofmannsthal, Gerhart Hauptmann, Thomas Mann und viele mehr – schon früher auf Nietzsche („Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“, 1872) berufen, wenn sie das Dionysische als Rausch beschrieben. Und so regte Dionysos im Laufe der Jahrhunderte viele Künstler – Caravaggio, Rembrandt, Rubens, u.v.m. – an. Sogar die Dresdner Semperoper ist dem griechischen Gott gewidmet. Auch Brendan Perry, treibende Kraft hinter DEAD CAN DANCE, war von den immer noch stattfindenden, geradezu religiösen Kultfeiern im Namen dieses Gottes beeindruckt. Zwei Jahre lang arbeitete er dionysisch an dem Nachfolger zu ´Anastasis´, ohne seinen eigenen Kompositionen hellenischer Abstammung – ´Ullyses´ oder ´Persephone´ – nachzueifern. Seine kongeniale Partnerin Lisa Gerrard unterstützte ihn dabei nur noch – wie in den Anfangstagen – sporadisch, als die Band eher wie ein Künstlerkollektiv arbeitete, dessen Besetzung sich irgendwann nur noch auf den Kern der beiden reduzierte.

 


ACT I – Sea Borne announces Dionysus’ arrival from the east by ship. This movement is crucial to understanding Dionysus as an outsider god – ‘the god that comes’ – central to Ancient Greek city religions that affiliate him with the protection of those who do not belong to conventional society, and anything which escapes human reason.


ACT I – Liberator of Minds, with Dionysus being known as ‘he who lends men’s minds wings’, the album’s second movement conveys the use of hallucinogens and mind-expanding drugs that are associated with him as well as breaking free from the constraints of social norms within society.

 

´Dionysus´ ist im Laufe seiner Entstehung ein spirituelles Weltmusik-Album geworden, ein anhand von Stationen des Gottes Dionysos überwiegend instrumentales Werk. Die Musik kombiniert vielerlei weltliche Musik, die sich der Hörer bei einem heidnischem Ritual oder der Feier eines Dorffestes vorstellen kann. Das Rufen und Singen zur Beschwörung ist nur phonetischer Art. Natürliche Klänge und Tiergeräusche aus „Field recordings“ gesellen sich hinzu. Als Instrumente überraschen erstmals die iranische Rahmentrommel Daf und die slowakische Hirtenflöte Fujara.

DEAD CAN DANCE tragen uns ´Dionysus´ in zwei Akten vor. Der erste Akt ist der Beschwörungstanz – für den Gott des Rausches und der Ekstase. Dramatische Rhythmen werden regelrecht zelebriert. Streicher, Bagpipes aus Südosteuropa sowie sanfte, menschliche Töne finden sich ein (´Sea Borne´). Vogelrufe aus Mexiko und Brasilien beginnen die Stammesrituale, aztekische Flöten mischen sich unter die bulgarische GadulkaLiberator Of Minds´). Grillen zirpen. Letztlich zieht der Rhythmus Schlag auf Schlag an, die Saiten der brasilianische Berimbau vibrieren, holla.  (´Dance Of The Bacchantes´). Der zweite Akt ist ein orientalischer Fruchtbarkeitstanz – für den Gott der Fruchtbarkeit. Über die Geburt, den Tod und das Leben danach. Erstmals dürfen wir dem Flehen von Brendan und Lisa beiwohnen (´The Mountain´) sowie einem orientalisch-esoterischen Ritus (´The Invocation´). Während Gesänge den griechischen Gott anrufen (´The Forest´), weisen die Rhythmus-Schläge und die aufkeimende Geräuschkulisse auf das Ende hin (´Psychopomp´).

Derweil starrt uns als Coverartwork eine Maske der Huichol-Indianer aus der südlichen Sierra Madre Mexikos entgegen. Die Huichol-Indianer sind als Künstler und Schamanen für ihre Riten sowie ihre mit Perlen verzierten Masken weltbekannt. Ein Erlebnis für Groß und Klein, können doch die Kleinen ein maßstabgetreues Bügelperlenbild hiervon anfertigen. Daher sollte ´Dionysus´ am sinnvollsten in der wahren Größe, in der limitierten Vinyl-Edition ergattert werden. So wie es mehrere von uns taten. Das violette Vinyl ist dabei in einem – erneut für die Kleinen von Belang – gepolstertem Buch zu bestaunen, mit exklusiven Artworks auf 16 Seiten sowie einer enthaltenen CD. Leider fehlen dieser kostbaren Aufmachung jegliche Angaben zu den beteiligten Künstlern. Zuweilen muss einfach die magische und atmosphärische Musik überzeugend genug und ausreichend sein. ´Dionysus´ ist selbst für DEAD CAN DANCE-Kenner eine Überraschung, eine geistige Reinigung vom Alltag und seiner Geräuschkulisse. World Music-Sammler kommen 2018 mit DEAD CAN DANCE unbedingt auf ihre Kosten.

(8 Punkte)

Michael Haifl

 


ACT I – Dance of the Bacchantes, invokes the rite that Dionysus’ female followers took part in, abandoning their domestic duties for trance-like processions and dances.


ACT II – The Mountain, the first movement of the album’s second Act, the listener will find themselves visiting Mount Nysa. This mountain was Dionysus’ place of birth, where he was raised by the centaur Chiron, from whom he learned chants and dances together with Bacchic rites and initiations.

 

Nach fünf Jahren erlebt man endlich den Augenblick, für den man sich einmal bei Facebook angemeldet hatte: DEAD CAN DANCE gehen auf Tournee und kündigen eine neue Platte an, und man ist einer der ersten, die es mitbekommen. Ich hab Zuckerberg doch nicht sinnlos meine Daten in den Rachen geworfen!

Also Tickets gesichert, limitierte LP bestellt und voller Vorfreude auf die Veröffentlichung gewartet. Und dann ist er endlich da, der Tag des Herren, der Postbote bringt das Paket mit der ersehnten Platte. Mit der LP kam der Download Code, also erstmal die MP3s runtergeladen, in Ermangelung eines Plattenspielers auf der Arbeit. Bei solch einer Vorfreude kann natürlich die Ernüchterung umso größer sein. Aha, Vorder- und Rückseite der Platte mit drei bzw. vier Liedern kommen als nur zwei Dateien daher, Act 1 und Act 2. Erste Enttäuschung: nur 37 Minuten Spielzeit. Naja, wenn die Lieder Bombe sind, ist das auszuhalten. Doch um es vorweg zu nehmen – sie sind nicht Bombe.

Der erste Akt ist überwiegend instrumental gehalten, mit selten gesetzten Chören im Hintergrund. Sehr orientalisch bzw. indianisch, das wäre nicht weiter schlimm. Allerdings plätschern die Lieder nur so vor sich hin, es passiert sehr wenig, ein Beat zieht sich fünf Minuten hin und gelegentlich kommt ein anderes Instrument darüber. Erst im zweiten Akt hört man endlich Brendan Perry singen und später dann auch Lisa Gerrard. Diese Lieder reißen einen aber auch nicht vom Hocker. Sie sind genau wie im ersten Akt, eben nur mit Gesang.

Als Debütalbum einer unbekannten Band wäre die Platte ganz o.k., für meine Idole ist das aber viel zu wenig. Ich nehme ihnen die zwei Jahre Produktion einfach nicht ab. Es wirkt auf mich eher so, als hätte man sich für eine neue Tour verabredet, braucht dafür ein neues Album und hat daher irgendetwas produziert oder produzieren lassen. Natürlich schmeichelt diese Scheibe den Ohren und die Lieder sind tranceartig und chillig. Aber das bekommt auch ein mäßig talentierter Goa-Hippie um 11:00 Uhr morgens spontan bei der After Hour Session hin.

(7,5 Punkte)


D. F. Heinkele

 


ACT II The Invocation represents the chorus who summon the god to participate in the harvest ceremony which also refers to his pre-eminence in the creation and birth of Greek theatre and tragedy.


ACT II – The Forest, the call to abandon worldly and material pursuits and return to a primeval enlightened state of being as in the Hindu tradition of Vanaprastha “departure to the forest” which is seen as the final stage in human spiritual development.

 

Ein griechischer Schriftzug damals, eine antike Gottheit heute. Eine Maske auf dem Cover, aber diesmal nicht in strengem Schwarz/Weiß, sondern so bunt wie das Leben – schließt sich hier ein Kreis?

34 Jahre nach ihrem Debütalbum gibt es doch nochmal eine gemeinsame Platte und sogar Tour des kongenialen, australischen Duos Gerrard/Perry, das wie kein zweites musikalische Grenzen aufgebrochen und die Hörperspektive erweitert hat, bis zum Horizont und weit darüber hinaus. Die ganze Welt findet sich wieder in ihrem Werk, das schon lange rockmusikalische Form und Instrumentation hinter sich gelassen hat – wer hier immer noch auf Gitarren, verständliche Songtexte oder die typisch morbide 90er Darkwave-Atmosphäre hofft, hat schon verloren. Dazugewinnen werden jedoch alle, die fremde Einflüsse aus Folklore, Mythen sowie spirituellen Praktiken nur so in sich aufsaugen und immer wieder Neues entdecken wollen.

Will man sie unbedingt kategorisieren, sind DEAD CAN DANCE heute pure Weltmusik, aber eben immer noch mit dem kühlen, distanzierten Gothic-Twist zwischen all den exotischen Instrumenten aus jedem Winkel unseres großartigen Planeten. Doch wovon sie diesmal in der strengen Form eines Oratoriums aus zwei Akten und sieben „Movements“ erzählen, ist eine europäische Geschichte, nämlich die des bis heute praktizierten Dionysos-Kultes. Römisch Bacchus genannt, ist er einer Tochter der Weinlage Bergstraße natürlich nicht fern – der Gott der Genussfreude, der Ektase und des Wahnsinns, und folgerichtig entführt er uns auf dieser Platte in eine ausschweifende Trance, eine Feier der lebensspendenden, fruchtbaren Natur und des prallen Lebens.

Da Rhythmus allem Leben zugrunde liegt, ist es ein Album mit ausgeprägtem Schwerpunkt auf Percussion, es lädt zum bacchantischen Tanz, geht direkt in die Beine und wie Dionysos’ Wein und andere rauschfördernde Substanzen ins Blut. Perry unterstützt dies mithilfe eines Kaleidoskopes an Instrumenten aus allen Erdteilen und Kulturen, und vermutlich sind es die Frauen von ´Le Mystère des Voix Bulgares´, mit denen Lisa Gerrard erst kürzlich für ’BooCheeMish’ zusammengearbeitet hatte, die ihren Teil zum Ritual zu seinen Ehren beitragen, genauso wie Brendan Perrys beschwörende und (leider weniger dominant) Lisa Gerrards lockende Stimme – die jedoch fast nur im zweiten Akt zum Tragen kommen, während uns der erste in die allumfassende Natur entführt, mit all ihren geheimnisvollen Lauten und Geräuschen. Wer einmal eine Nacht campend im australischen Regenwald verbracht hat, weiß wie viel es da zu hören gibt an Wiegenliedern, an Schlafzimmermusik des Dschungels – es ist niemals still, schon gar nicht wenn schließlich wieder die Dämmerung anbricht…überall zirpt, raschelt, ruft, summt und brummt es, so wie die Bienen zu Beginn des Albums samt der Ziegenherde, die uns direkt auf den in sommerlicher Hitze flirrenden Peleponnes entführen. Die Produktion ist dabei unglaublich präzise – man glaubt jeden Flügelschlag eines Schmetterlings zu hören, ein HiFi-Genuss der besonderen Art.

Dem modernen Mitteleuropäer ist jedoch all dies fremd, er kennt die zermürbenden Geräusche der Großstadt besser als die Laute der Wildnis, und wenn, dann oft nur noch konserviert durch field recordings. Die Botschaft von ’Dionysus’ ist damit „All is One“ – alles wirkt ineinander, gehört zusammen, und hat abertausend verschiedene Facetten, Gerüche, Geschmäcker und Klänge. Wir müssen sie dringend wieder finden, die uns weitgehend verloren gegangene Verbundenheit mit unserer Umwelt, all ihren Individuen, und unserem Heimatplaneten – die Rückwendung zur Natur, auch der eigenen, tierischen und damit dem Trost, den sie uns spenden kann. Sonst kommt es für uns alle zum ernüchternden Erwachen – und nicht erst nach kurzen 36 Minuten.

Es sind Lieder der Menschheit, die hier gesungen werden, die jeder versteht, jenseits von Worten und Sprache, von festgelegten, stereotypen Klängen. Kulturübergreifend, verbindend, nicht trennend. Musik, die man fühlen und nicht auseinandernehmen sollte…eine Botschaft, ein Geschenk. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

(8,5 Punkte)

U.Violet

 


ACT II – Psychopomp, the final movement sees Dionysus in his role as a guide to the afterlife, where he escorted dead souls to Hades.


Official: https://www.deadcandance.com/
Facebook: https://www.facebook.com/DeadCanDanceOfficial/


(VÖ: 2.11.2018)