PlattenkritikenPressfrisch

NECRONOMICON – Verwundete Stadt

2017 (Independent) – Stil: Symphonischer Rock


Ein Lieblingsvinyl von mir 2017 ist sicher das neue Album der deutschen NECRONOMICON. Die deutschen NECRONOMICON? Ja, tatsächlich die deutschen NECRONOMICON. Allerdings nicht die süddeutschen Thrasher der 80er, sondern eine ältere, 1972 bereits mit ihrem ´Tipps zum Selbstmord´-Album zum Kult gewordene Hardrockband, die auf politische bis sozialkritische Texte in der Muttersprache setzte und sich somit von den gängigen Orgelrockern abhob. Vierzig Jahre später legten sie dann mit ´Haifische´ das Zweitwerk vor, sauberer, entspannter, weniger derb, aber höchst intensiv und packend. Und nun steht weitere fünf Jahre danach der Nachfolger zum Nachfolger im Plattenschrank und NECRONOMICON haben damit ihre bandeigene Messlatte nochmal in die Höhe getrieben. Man denkt, dass von den Altvorderen kaum mehr was kommt, aber wenn DEEP PURPLE eines der besten Alben ihrer Karriere im gesetzteren Alter von Mitte Sechzig bis Anfang Siebzig an den Start bringen, dann können das NECRONOMICON erst recht. Und somit legen sie ein Album vor, das man als Fan von orgeligem Symphonic Hardrock einfach kennen muss, das als Referenzwerk für alle Frischlinge gelten muss.

Proggig und mystisch mit verspielten Läufen, aber straightem und entspanntem Beat legt die Band los. Wieder diese sich auf den Tod nicht reimenden Texte voller scheußlicher Visionen in recht geradlinigen Worten dargebracht. Dafür sind NECRONOMICON seit 1972 unter Krautrockfans bekannt. Ist das denn noch Krautrock? Ach, dafür ist die Musik zu versiert und auf den Punkt gespielt. ´Trostlose Stadt´ nennt sich das Stück, sicher wieder ein altes, vor 45 Jahren nicht bei der Albumproduktion berücksichtigtes Stück, das jetzt aufgepeppt wurde und somit frisch und intensiv klingt. Der Song ist recht wuchtig in den rockigen Momenten, die Gitarre von Walter Sturm hat einen kräftigen, schweren Klang. Verspielte und versponnene Momente, ein entspannt swingender Part mit schummeriger Baratmosphäre und bluesiger Gesangslinie dazwischen. Das Stück ist abwechslungsreich, sehr traditionell im harten, dezent bombastischen Rock verwurzelt und doch einprägsam und dadurch mitreißend. Was kommt hiernach? Feierliches Orgelspiel mit klassischen Wurzeln und einer eher freundlichen Atmosphäre, dann ein schmachtender Symphonic Rock-Part mit schöner Gitarrenlinie und sanften Saxophonläufen. Ein wenig spannender wird der nächste Part, der Rhythmus kräftiger, stampfender, die Gitarre forscher, die gesamte Melodie dramatischer. Und es geht in die Auflösung hinein, die zur entspannt dahinfließenden, ersten Strophe führt. Eine textliche Vision von Wohlstand wird dem Hörer verkündet. Die zweite Strophenhälfte wird rockiger, frecher, klingt nach erdigem Malocher-Rock. Der Text wandelt sich inhaltlich, zeigt nun die Gegenseite. Der Refrain kommt, entspannt, melodisch, lässt über das Licht und den Schatten in der gleichen Stadt nachdenken. Ein Lied voller Schönheit und mit sehr optimistischen, beinahe euphorischen Melodien, wobei ein paar schön wuchtige Parts aus den Boxen knallen.

Alarmsirenen, ein Gong, japanisch klingende Melodien von einer Flöte, darüber gesprochene Worte mit sonorer Stimme. Der Text zielt auf den Atomunfall in der Gegend um die japanische Stadt Fukushima. Ein ergreifend schöner Song mit sehnsuchtsvollem Ausdruck und einigen kraftvoll rockenden Momenten. Kompliziert ist hier nichts, wohl aber etwas verspielter. NECRONOMICON setzen anno 2017 auf eindringliche, den Hörer mit sich reißende Melodien und eine nicht ganz so ruppige, aber schön bissig rockende Darbietung. Dabei sind die inzwischen gereiften Herren nach wie vor voller Elan und musikalischem Tatendrang. Und so ist ´Frühling in Fukushima´ ein fantastisches, mal verträumtes, mal kraftvoll donnerndes Instrumental, abgesehen vom eingangs gesprochenen Text. Und das wäre noch nicht einmal der Großartigkeit letzter Schuss auf diesem Album.

´Alle Jahre wieder´ zeigt, wie man 2017 vollkommen klassischen, dabei erfrischenden Hardrock spielen kann, der mit tollen und abertollen Gitarrenmelodien, mal klassischen, mal folkigen, mal angejazzten Orgelläufen, charismatischem Gesang und abwechslungsreichen Strukturen getragen wird. Es beginnt mit einem rockigen Abritt, welcher dezent an den Säbeltanz gemahnt. Eine getragene Symphohardrockpassage und ein verspielter Übergang in die Strophe mit nachdenklicher Melodie, in der immer ein leichter Hauch Wahnsinn mitschwingt lassen das Stück sehr ordentlich beginnen. Der Text ist unglaublich düster, zornig, apokalyptisch. Auch sind hier sicher entspanntere, zurückhaltendere Rockmomente gegeben, aus denen dann treibendere Parts entspringen. Tolles Orgelspiel mit wuchtig verzerrter Hammond kommt hier gleichberechtigt zu den Gitarren und zusammen entsteht ein unglaublich kraftvoller, erhabener Rocksound. ´Alle Jahre wieder´ verweist einen Großteil der Classic Rock-Kids auf die Ränge, zwingt sie zum Nachsitzen. Was für Läufe, was für Gitarrenharmonien, was für Riffs und was für ein starkes, rhythmisches Gefüge aus pumpendem Bass und präzisem Trommeln. Und dann kommt da so ein cooler, bodenständiger Gitarrenrock, der irgendwo an den kräftigeren Teil der Neil Young-Songs erinnert. Rock, erdig, ehrlich und liebenswert. Unprogressiv, klar, auch ein Kontrast zum symphonischen Hardrock des Restsongs, aber doch so perfekt in diesen Song eingepasst. Und mit einem hymnischen Abschluss entschwindet das Stück in die Ewigkeit. Wow. Ein unglaublicher Gnadenhammer. Aber die Platte braucht bei aller Direktheit so ihre Zeit und zündet zwar rasch, aber durchaus erst nach ca. zehn Durchläufen komplett. Es sind viele Eindrücke für den Hörer zu verarbeiten. Old School ganz zeitlos schön, möchte ich meinen. NECRONOMICON haben dieses Element erhaben schwebender Schönheit in den Gitarrenmelodien, eine große Feierlichkeit und unbändige Lebensfreude, bei aller Dunkelheit und Verdammnis, die aus ihren Texten entspringen. Und ja, ihre Texte sind aktuell wie nie zuvor.

Mit einem beschwingten Chansonakkordeon fängt dann ´Verwundete Stadt Berlin´ an, ein härter rockender Moment tritt auf, dann eine ruhige Strophe und ein erhabener, mittelschneller Refrain. Ein gewisser sehnsuchtsvoller Aspekt schwingt in den Melodien mit, wie er bei vielen DDR-Bands der 70er und 80er vertreten war, ein Ausdruck von Fernweh und Entschlossenheit. Dabei geht es um das Weihnachtsmarktsattentat in Berlin, aber auch da ist ja dieser Drang der Menschen zurück zum Leben frei von Angst und das Gefühl ist dem der alten DDR-Rocker nicht unähnlich. Ein schöner Song, der sich definitiv noch weiter entfalten wird, wenn man sich in ihm treiben lässt. Schöne Saxophoneinlagen im Refrain erinnern an manche VAN DER GRAAF GENERATOR-Songs. Aber das kann man unter den Tisch fallen lassen. NECRONOMICON klingen allein nach sich selbst. Auch nach 45 Jahren noch.

So, die LP-Version im für die Band typischen Klappcover, welches völlig ausgeklappt ein Kruzifix ergibt, ist jetzt beendet. Die CD im Digipack enthält noch die Kurzversion von ´Licht und Schatten´, die ein schönes Wiederhören mit der zweiten Strophe und dem Refrain, dazu einigen schönen Instrumentalparts bietet. Wer auf eigenständigen, dezent progressiven, anspruchsvollen Symphonic Hardrock steht, deutsche Texte abkann und kein Problem damit hat, dass kaum ein Reimschema zu erkennen ist, wird ein absolutes Meisterwerk sein Eigen nennen dürfen. Ich freue mich, dass die Band sich noch so angriffslustig und lebendig zeigt. Zu bekommen u.a. direkt bei der Band http://necronomicon-1972.de/

(9,5 Punkte)

https://www.facebook.com/Necronomicon/