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STEVEN WILSON – To The Bone

~ 2017 (Caroline Distribution) – Stil: Artpop / Artrock ~


Der Heilsbringer der Progressiven Musik, von der er sich von Beginn an nicht vereinnahmen ließ, entfernt sich mit seinem fünften Solo-Werk so weit wie noch nie zuvor von seinen Ursprüngen. Erklärtermaßen auf diesem von Peter Gabriel, Kate Bush, TALK TALK und TEARS FOR FEARS beeinflusst, dürfte ´To The Bone´ Steven Wilson eine unbändige Dauerpräsenz in allen Medien sowie das Erklimmen der nächsten Stufe auf der Karriereleiter ermöglichen.

Trotz offenherziger Spielweise verharrt Steven Wilson aber weiterhin, ebenfalls mit seiner textlichen Betrachtung der Weltpolitik, wenn zwischen Terroristen, religiösen Fundamentalisten und Flüchtlingen die Wahrheit ein wechselhafter, launiger Begriff wird, in melancholischer Finsternis. Und schenkt seinen treuen Jüngern reichlich neue Gaben, die ganz gleich, ob sie als Prog, als Rock oder Pop bezeichnet werden, schlichtweg süchtig machen sollen.

 

Bei der sich immerfort im dunklen Geist von TALK TALK und PINK FLOYD gebärenden Eröffnungsnummer ´To The Bone´, zu der XTCs Andy Partridge die Lyrics und Mark Feltham Harmonica-Einsätze beisteuert, kann sich der PORCUPINE TREE-Anhänger sogleich an gewohnt schwelgerischen Abschnitten erfreuen und unerwartet aufgrund hektischer City of TALKING HEADS-Grooves und funky Trommelschlägen ängstigen. Mit ungewohnt hohem Helium-Gesang versinkt `The Same Asylum As Before´ dennoch eher in den vor gut anderthalb Dekaden geläufigen Bahnen von PORCUPINE TREE, inklusive wiederentdecktem Telecaster-Gebrauch sowie putzigen „Do-do-do“-Gesängen, ohne in „De Do-do-do, De Da-da-da“-Sphären einzutauchen. Das grimmig-flotte ´People Who Eat Darkness´, das Steven Wilson in den Nachwehen zum Terroranschlag im Pariser Bataclan schrieb, flirtet zudem genauso wenig vergeblich mit dem Stachelschweinbaum wie die prächtige, finale Hymne für das ungeborene Kind ´Song Of Unborn´.

 

Ein wunderbar besinnliches ´Nowhere Now´ gönnt sich hingegen über den Wolken die grenzenlos besungene Freiheit und einige regelrechte RUSH-Gedächtnisparts. Auch die äußerst fantastische, mit der unglaublichen Sängerin Ninet Tayeb gesungene Halbballade ´Pariah´, die im gewohnt Wilson´schen instrumentalen Ausbruch kurzerhand ausufert und mit Shoegazer-Gitarren ausklingt, gehört zu den Höhepunkten. Die israelische Sängerin, die einst auf ´Hand. Cannot. Erase´ zu Gast war, wertet ebenso noch das kürzere, aber keinesfalls zu unterschätzende ´Blank Tapes´ auf. Ihre ansonsten in der Indie-Szene aufblühende Stimme wäre für ein großes Hardrock-Werk überaus prädestiniert.

 

Allein durch seine emotionsbindende Dynamik gelangt dann das in anfänglicher Peter Gabriel-Atmosphäre auflauernde ´Refuge´ mit seiner überschäumenden Instrumental-Orgie, aus Robert Wyatt-Keyboardklängen explodieren nacheinander Drums, Harmonica und Gitarre, zur wahren Größe. Diese ausladenden Abschnitte zeigt ´Detonation´ in ausgiebiger Art und Weise und schimmert nur deshalb aus der Dunkelheit und Düsternis hervor. Streicher des London Session Orchesters verzieren das von Sophie Hunger und Steven Wilson besessen gespielte Liebespaar in ´Song Of I´, während die Elektronik den Beat vorgibt. Den Pop-Vogel schießt ´Permanating´ ab. Im steifen Takt schauen nach jedem Abschuss abwechselnd PREFAB SPROUT im Disco-Beat und die BEATLES heraus. Als Retro-Instant-Classic vorstellbar. Lovely.

 

Somit hat sich erneut der Erwerb der gängigen Wilson-Box-Set-Edition im 120-seitigen Hardcover-Book, inklusive zwei Silberlingen, einmal mit Demos und Unused-Songs, Blu-Ray, DVD sowie 7-inch Single ´Antisocial´, gelohnt.

´To The Bone´ ist die Wundertüte des Jahres 2017, die in ihren Tiefen die Abgründe des Zeitgeschehens beherbergt und aus der nebligen Oberfläche heraus schillernd glitzernde Perlen umhertanzen lässt.

(9 Punkte)