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„Systemstörung – Die Geschichte von Noise Records“ – von David E. Gehlke

2017 (I.P.Verlag)


Satte 504 Seiten hat man für dieses Buch springen lassen. Und es hätte noch fetter sein dürfen, sag ich jetzt mal. Die Geschichte von einem der wichtigsten Heavy Metal-Labels der Welt kann zwar in 500 Seiten gepackt werden, dennoch werden dadurch, nachdem ich das Buch recht schnell gelesen hatte, grundsätzlich erst einmal die generellen Infos abgedeckt.

Es gibt Kapitel, da geht es in die Tiefe, speziell was die Verkaufsschlager des Labels (RUNNING WILD, CELTIC FROST, TANKARD, VOI VOD, HELLOWEEN, KREATOR, GAMMA RAY etc.) betrifft, dafür ist deutlich weniger über die zweite Garde an Bands des Labels (SECRECY, SCANNER, VENDETTA, DEATHROW, etc.) zu erfahren. Dass tiefer in manche Business-Entscheidungen vorzudringen wäre, bleibt diskussionswürdig, dies hat auch wohl der Autor so gesehen, wobei ich persönlich mir hier und da etwas ausführlichere Infos gewünscht hätte, hatte ich doch die Expansion des Labels und ihrer Bands eigentlich hautnah als Fanzine-Schreiber mit ‚Shock Power‘, ‚Thunderbolt‘, etc. miterlebt. Generell hat David E. Gehlke, ehemals Gitarrist bei den US-Thrashern CROWN THE LOST und renommierter Schreiber für amerikanische Magazine, einen guten Job abgeliefert. Allerdings bleibt Labelboss Karl-Ulrich Walterbach zu oft der Saubermann. Selbst wenn vieles eventuell heutzutage nicht mehr genau rekonstruiert werden kann, aber bei alledem was ich damals mitbekommen oder auch von Bands mitgeteilt bekommen habe, erlaube ich mir mal das in den Raum zu stellen. Zugleich sollte dieses Buch auch nicht als Walterbach-Biografie angesehen werden bzw. als Möglichkeit der Abrechnung einiger Bands mit ihrem ex-Arbeitgeber, wobei doch hier und da einige gute Aussagen von Bands und Musikern im Raume stehen, die Walterbach als nicht gerade kleinen Diktator dastehen lassen.

Inhaltlich finde ich gerade die Anfangstage des Labels und den Werdegang von Walterbach zu einem der wichtigsten deutschen Labelbosse interessant. Dass er aus der Punkszene kam und durch diese Erfahrungen erst die Grundlage für Noise Records legte, ist interessant zu lesen. Dass er im Knast deswegen saß, wird ebenso angesprochen wie seine Punk-Loser-Tage in der Berliner Hausbesetzerszene. Dass er schon damals Visionen hatte, ist unbestritten, sonst wäre er nicht in die Metalszene eingestiegen. Er hat sich alles Wissen selbst draufgearbeitet und dementsprechend auch bestimmte Entscheidungen getroffen, positive wie negative. Vieles wird im Buch darüber angesprochen.

Witzig sind dann so kantige Aussagen wie beim Thema GRAVE DIGGER von Walterbach zum dritten GRAVE DIGGER-Album `Stronger Than Ever` und die Namensänderung in DIGGER: : „….Wenn etwas schiefgeht, schiebt eine Band die Schuld zuallererst auf ihr Label. Boltendahl ist ein Trottel. Ich soll mir dieses Donald-Duck-Cover ausgedacht haben? Eine glatte Lüge!….“ Bei RAGE und Noise lief es dagegen auch nie richtig rund. Labelboss und Band blieben sich fremd. Eventuell lag das schon am verhunzten Start der Zusammenarbeit. Ursprünglich sollte die Band den Namen von AVENGER zu FURIOUS RAGE ändern, abgesegnet vom Boss selbst. Dazu Peavy: „Als wir unser Debüt zum ersten Mal in meinem Stammplattenladen in der Stadt sahen, erschraken wir. Karl hatte über uns hinweg das „FURIOUS“ gestrichen. Das Cover stimmte auch nicht. Es mag unglaublich klingen, aber wir wurden einfach bei keiner Entscheidung gefragt….“! Ja, so lief das damals.

In Sachen KREATOR legt man bei der Aussage von Antje Lange, rechte Hand von Walterbach und später Geschäftsführerin des Berliner Büros, die Ohren an: „Es gab vermutlich keine Band (KREATOR), die so schlecht behandelt wurde wie sie. Einmal rief er ihn (Mille) an und verlangte: ´Komm nach Berlin, wir müssen uns unterhalten.´ Der arme Kerl nahm die 500 oder 600 km bis hierher auf sich und wartete auf den Chef. Fünf, sechs Stunden hockte er in unserem Büro, bis Karl irgendwann eintrudelte und meinte: ´Pass auf, ich habe keine Zeit, sondern wichtige Dinge zu tun.´ So etwas passierte ein paar Mal.“ Man muss sich solch ein Trip Mitte der Achtziger zeitaufwendig und teuer vorstellen. Zumal Berlin noch vom Rest der BRD abgetrennt war. Nur mal so nebenbei für Zuspätgeborene. Viele Interna und wo die maßgeblichen Fehlentscheidungen in Sachen CELTIC FROST lagen, die der Band das Genick brachen, ist dann recht interessant zu lesen, aus Band als auch aus Walterbachs Sicht. Eine Band, über die ausführlich berichtet wird, sind HELLOWEEN. Und beim Thema HELLOWEEN ist Walterbach heute noch angefressen (liest man sich die O-Ton Interviews genau durch), dass ihm das goldene Kalb vom Teller gezogen hat.

Die Bands der zweiten Generation beim Label – wie WATCHTOWER, DEATHROW, SECRECY, etc. – werden im Schnelldurchlauf abgehandelt. Leider. Hier hätte noch einiges an Umfang dazu gehört. Ab Anfang/Mitte der Neunziger, bis zum schnellen Ende von Noise Records, geht es in viel zu großen Abschnitten voran. Und das unsägliche Ende des Labels ist schon bedrückend. Walterbach bekommt zum Ende des Buches in einem „Nachwort“ die Möglichkeit für ein kurzes Resümee und die Zukunft der Szene.

Alles in allem ein interessantes, lesenswertes Buch, das einen groben Einblick in das Schaffen des Labels und seiner Hauptakteure gibt. Dass Fragen offenbleiben, ist selbstredend, manches wurde nicht angesprochen oder ist nicht für die Öffentlichkeit bestimmt, was verständlich ist. Aber als informativer Lesespaß ist das Buch mehr als geeignet.