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MARILLION – F E A R (Fuck Everyone And Run)

~ 2016 (earMUSIC) – Stil: Artrock ~


MARILLION haben eine treue Fanschar. Eine Crowdfunding-Kampagne finanzierte auch das 18. Studioalbum der Band, so dass jeder Investor seit diesem Zeitpunkt auf seine „Signed Special Edition of Album“ oder andere, noch teurere Errungenschaften wartet. Dass der ursprüngliche Veröffentlichungstermin von Mai auf September gelegt wurde, ist leicht zu verschmerzen. Große Lieder benötigen mehr Zeit als gewöhnliches Liedgut. Doch mittlerweile steht der große Tag kurz bevor und glücklicherweise läuft bereits seit Wochen die Vorabversion hoch und runter. Fünf überwiegend lange Songs, umhüllt von einem Coverartwork, das einen glänzend schimmernden Goldbarren darstellt, auf dem fett die einzelnen Buchstaben F E A R eingraviert sind, stellen das Ergebnis des Schöpfungsprozesses dar. Und ´F E A R (Fuck Everyone And Run)´ ist tatsächlich äußerst durchdacht sowie konzeptionell fast so tragend wie ´Brave´ gestaltet und bündelt dabei die Stärken MARILLIONs aus der letzten Dekade mehr als weiland ´Marbles´. Folglich eines der besten Werke der Hogarth-Ära.

F E A R als Albumtitel, F E A R als Abkürzung für „Fuck Everyone And Run“. Allein das Coverartwork gibt bereits Rätsel auf. Der Buchstabe „A“ enthält nämlich in seinem Kästchen noch die Zahl 18 und ein „U“. Beide Buchstaben zusammen – „AU“ – sind das chemische Kürzel für Gold, während der Goldbarren an sich schon den Bezug zum Song ´El Dorado´ herstellt, dem Namen nach ein sagenhaftes Goldland im nördlichen Südamerika. 18 kann außerdem für 18 Karat stehen sowie für das 18. Studioalbum der Band. Der Buchstabe „R“ hat hingegen in seinem Kästchen außerdem die Buchstaben „UN“, passend für „Run“ oder für die Vereinten Nationen stehend.

Vogelgezwitscher, Steve Rotherys Akustikgitarre und Steve Hogarth am Gesang, leiten den viertelstündigen Opener ´El Dorado´ ein. Tasteninstrumente gesellen sich hinzu, vereinzelt gar an Richard Wright erinnernd, und ergießen sich zum Höhepunkt in den Rufen nach „Gold“. Solange eine beruhigende Atmosphäre aufbauend, ähnlich unserer ehemaligen gesellschaftlichen Lage, bis der Sturm darüber hinwegbricht, sei es aus ökologischer, finanzieller oder humanitärer Hinsicht. Und nichts ändert sich wirklich in England, singt Hogarth, die Angst ist überall. ´El Dorado´ wird somit zu einem zeitkritischen Song, der sich musikalisch stetig verändert und nur wenige Orkanausbrüche zu verzeichnen hat. Das kürzere ´Living In F E A R´ schließt sich hernach an und kippt aus seiner ebenfalls melancholischen Ader eher in eine fröhliche Stimmung um. ´The Leavers´ widmet sich auf über zwanzig Minuten dem täglichen Leben on the road. Jeder Tag geht in einer anderen Stadt vorüber, erst die Show, dann in den Bus, schlafen und in die nächste Stadt. Ein Song, der mit jedem seiner einzelnen Abschnitte – denn alle drei durchgehend fließenden Longtracks wurden in einzelne Parts unterteilt und betitelt – fesseln und begeistern kann. ´White Paper´ rät dann zwischendurch, lieber zur Seite zu treten, das schöne Leben zu betrachten und zum Genuss des Momentes. Zum Abschluss darf der fantastische Song ´The New Kings´ genossen werden, der endlich die von Hogarth in Falsettstimme gesungene Textzeile „Fuck Everyone And Run“ enthält. Ein auch musikalisch dramatisch vorgetragener Song über die dunklen Seiten der Demokratie, aufgrund des Geldes und der Korruption. Über das Auseinanderdriften zwischen Reich und Arm, das Erscheinen neuer Könige, gerade am Beispiel Russlands. Denn nach Perestroika und Glasnost wurde in einem kurzen Zeitraum ein sehr geringer Teil der Bevölkerung, nicht unbedingt durch neue Geschäftsideen, sehr reich. Der moderne Kapitalismus in seiner abartigsten Form. – Fuck Everyone And Run.

(9 Punkte)