Livehaftig

Night of the Prog Festival Vol. 9 (18/19.07.2014)

Ein Genusswochenende auf der Loreley


Letztes Jahr war das NotP vergleichsweise modern ausgerichtet, dieses Jahr wieder deutlich traditioneller. Schön, dass man mittlerweile auf ein Publikum zählen kann, das offen genug ist, Bands diverser Progausrichtungen zu akzeptieren. So können immer mal andere Schwerpunkte gesetzt werden und der Veranstalter kann insgesamt aus einem größeren Portfolio wählen und sich gänzlich auf die Qualität konzentrieren. Darauf kommt es an, egal ob die Bands nun jung oder alt sind. Erfreulicherweise gelang es auch dieses Jahr 13 tolle Gruppen zu verpflichten, die allesamt mindestens eine Stunde Spielzeit zur Verfügung gestellt bekommen.

 

Freitag

´Überschattet´ ist das Festival auf der Loreley vom heißesten Wochenende des Jahres. So nimmt das aus ganz Europa angereiste Publikum nicht nur viele Flüssigkeiten zu sich, sondern verliert diese schnell wieder im aufgeheizten Steinkessel des Amphitheaters. Es ist nicht verwunderlich, dass bei unserer etwas verspäteten Ankunft während des Openers GRAN TURISMO VELOCE die vereinzelten Baumschattenplätze im oberen Bereich gut ausgefüllt sind. Die Italiener erlangen bei mir nur kurze Aufmerksamkeit bezüglich der Optik (rot-schwarze Arbeitsanzüge), ob da nicht etwa KRAFTWERK spielen. Die restliche Zeit verstreicht bei einem Plausch mit heimgekehrtem Skandinavienurlauber.

Der Freitag hält jedoch jede Menge Highlights bereit, sodass schon zur zweiten Band ein Stehplatz im mittleren vorderen Treppengang in der prallen Sonne eingenommen wird. TRAUMHAUS haben aber zunächst technische Probleme. Der Gig beginnt erst mit knapp 20 Minuten Verspätung. Daher spielt die Band in 50 Minuten nur drei ihrer Longtracks, namentlich ´Das Vermächtnis´, ´Hinaus´ sowie den Titelsong ihres neuen Albums ´Das Geheimnis´. Der deutschsprachige Prog wurde auf diesen gelben Seiten ja bereits zurecht ausgiebig abgefeiert (Artist of the Month September 2013, hier). Nachteilig wirkt sich aber die extrem statische Performance aus, insbesondere bedingt durch die Fesselung von Mainman und Sänger Alexander Weyland hinter seinen Keyboards im Vordergrund der Bühne. Das hindert die einheimische Fanbase aber nicht daran, den Auftritt u.a. mit Ausdruckstanz abzufeiern.

Reunion Gigs können diese ganz spezielle Atmosphäre entwickeln. Eine Band trifft, voller Motivation mal wieder zusammen live zu spielen, auf ein freudig erregtes Publikum. So auch hier. COLLAGE klingen zwar nicht perfekt, auch der mit fast schon jugendlichem Elan ausgestattete Neu-Sänger Karol Wróblewski (BELIEVE) trifft nicht jede Note und klingt stellenweise zu leise (was auch bei anderen Bands der Fall ist), aber die fünf Recken sind mit einem Enthusiasmus bei der Sache wie keine andere Band des Festivals. Eine pfeffrige Prog ’n‘ Roll Show wird hier geboten. Karol ist immer unterwegs, animiert das Publikum mitzumachen und Gitarrist Miroslaw Gil ist bei seinen zahlreichen Soli auf stets angewinkelten Beinen nach hinten lehnend ein Hingucker. Ich hatte mit einer ´Moonshine´-Show gerechnet. Der 94er-Klassiker ist die einzig mir bekannte Scheibe. Allerdings kommen Songs von ihren anderen Alben gleichberechtigt zum Zuge (u.a. mit polnischen Lyrics), was der Faszination keinen Abbruch tut. Einziges kleines Manko: Den Smashhit ´Heroe’s Cry´ gibt es schon direkt zu Beginn und ´Living in The Moonlight´ wird uns leider gänzlich vorenthalten. Tolles Comeback, gerne ein neues Album.

Eine etwas längere Pause ist bei diesem Wetter vonnöten. Dass ich mir diese ausgerechnet bei der überragenden Live-Band LONG DISTANCE CALLING nehme, spricht für die großartige Besetzung des Festivals. Ich kann mir nicht vorstellen, dass LDC hier die Klasse ihrer Club-Gigs erreichen und sehen kann man sie sowieso zumindest jährlich. So machen wir uns notgedrungen zum Kofferraum, wo gerade die Big Four aufspielen (Wein, Whiskey, Cider und Bier). Die Auswirkungen sind für manchen blendenden Trinker dann auch heftiger als es eine kleine Pause implizieren würde.

Was man vom Parkplatz von LDC hört, klingt super und scheint komplett instrumental zu sein (auf der letzten Scheibe war man ja halb und halb unterwegs und gerade die Gesangstitel hatten durchaus ihren Reiz > ´Welcome Change – The Darkness inside´). Die Schlussviertelstunde bekommen wir noch innen mit. Die Güte des Gigs bestätigt sich und weiter oben ist auch der Sound besser, was den Regelfall darstellt, bedingt durch die weit außen hängenden Boxen.

Frisch gestärkt ist man nun bereit für den heimlichen Headliner, der, um es vorwegzunehmen, die Erwartungen erfüllen kann. IQ haben mit ´The Road Of Bones´ eines der absoluten Topalben der ersten Halbserie 2014 abgeliefert (hier geht’s zur Einzelkritik). Davon schaffen es ganze vier Stücke in die Setlist. Beim Titelstück und beim Longtrack ´Without Walls´ dringt die Atmosphäre bis ins Weltall vor. Peter Nicholls brilliert, theatralisiert und charismatisiert mit seinen Gesten wie kein Zweiter, auch wenn er zumindest am Anfang gesanglich viel zu leise rüberkommt. Spätestens als ´The Wake´ (der einzig gespielte 80er Song) nahtlos in den Evergreen ´Leap Of Faith´ übergeht, brechen sowieso alle Dämme. In Wahrheit sind IQ noch großartiger als alle 70er Größen. Geboten werden ansonsten noch als zweiter Song von ´Ever´, ´Out Of Nowhere´ sowie die Titelsongs von ´Frequency´ und ´The Seventh House´. Die ganz alten Sachen bleiben außen vor, beim letzten Besuch am Felsen 2011 hatte man ja noch ´The Last Human Getaway´ aufgeführt.

Ein extensiv in die Länge gezogener Soundcheck trägt dazu bei, dass der TRANSATLANTIC-Auftritt erheblich kürzer ausfällt als auf der Frühjahrstournee. Schön spielen sie selbstverständlich auf ihrem vorerst letztem Gig, wiederum unterstützt von Ted Leonard (ENCHANT), der beim Jahrhunderthit ´We All Need Some Light´ sogar mit Leadvocals glänzen darf.

Die Show bietet das gewohnte Unterhaltungsbeiwerk (Stöckchenwerfen). In den Hauptrollen agieren natürlich Sympathikus Neal Morse und Portnoy, der zwischendurch witzelt, wie uns denn der Soundcheck gefallen hat. Alles in Butter also, die ganz große Begeisterung entsteht nur deshalb nicht, weil man Indoor vor drei Monaten schon umfangreicher und intensiver beglückt wurde. So genießt man das Treiben halt gemütlich von der Tribüne bei ein paar Cocktails. Schnell ausgetrunken mit Resteis im Becher lassen sich diese in ausgewählten Phasen hervorragend für Percussionzwecke nutzen.

Samstag

Der Tag beginnt recht zeitig. Der Zimmergenosse reist zwecks eigenem Auftritt schon heute ab. Um kurz nach acht trifft man tatsächlich schon weitere bekannte Gesichter, sodass man beim 1,5-Sterne-Frühstück direkt mal den ersten Tag Revue passieren lassen kann. Zum Felsen geht es dann später mit meiner eigentlichen Reisegruppe. Aufgrund der deutsch-englischen Zusammensetzung können Kernkompetenzen im Auslegen von Badetüchern ausgespielt werden. Damit kann heute bei Bedarf bis zum späten Nachmittag ein schattiges Plätzchen aufgesucht werden.

Als erste Band dürfen SYNAESTHESIA ran, die mit ihrem sphärisch angehauchten Prog erste leichte Beifallsbekundungen generieren können. Nicht gänzlich überzeugend kommt aber der leicht eckige Gesang rüber.

A LIQUID LANDSCAPE haben nun schon einige Zeit ihr zweites Album im Kasten (Einzelkritik hier), welches allerdings weiterhin nicht offiziell veröffentlicht ist und nur bei Konzerten vertickt wird. Man startet furios mit den beiden besten Songs ´Nightingale Express´ vom gleichnamigen Debüt und dem neuen ´Open Wounds´, was aber für den Aufbau des Gigs nachteilig ist, da man in der zweiten Hälfte nicht mehr entsprechend nachlegen kann. Nichtsdestotrotz bleibt aber ein angenehmer New Artrock Gig in Erinnerung, zu dem es sich hervorragend chillen lässt.

Ein unerfindliches Rätsel ist, dass die beiden DREAM THE ELECTRIC SLEEPAlben noch nicht in meinem Besitz sind. So bin ich reichlich unvorbereitet und werde dafür umso mehr mitgerissen. Ein großartiger Auftritt mit wohlwollend aufgenommener Härte, Psychedelic und Stoner-Attitüde. Die Band wirkt wie für die Bühne gemacht, obwohl Liveauftritte bislang wahrscheinlich rar gesät blieben. Kentucky (LETHAL !!) scheint ein gutes Pflaster für coole Bands zu sein. Ähnlich wie gestern wird an dritter Stelle des Billings am intensivsten gerockt, wenn auch in völlig anderer Verzierung.

Der Samstag hat mit CLEPSYDRA ebenfalls ein legendäres Comeback, in der Besetzung ihres letzten Albums ´Alone´ von 2002 zu verzeichnen. Allerdings haben die Schweizer bereits einige 2014er Dates hinter sich gebracht. Die Erwartungen sind hoch, denn schließlich ist ihr intensives 94er Album ´More Grains Of Sand´ nicht weniger als einer der fünf Meilensteine des Neo-Prog. Die Band hat zwar sichtbar Spaß, bleibt aber von der Ausstrahlung viel verhaltener als am Vortag COLLAGE. Hervorzuheben ist die charakteristische, überzeugende ´akzent´-uierte gesangliche Vorstellung von Aluisio Maggini.

Einige eingefleischte Fans sind restlos weg (CLEPSYDRA waren das (!!) Festival-Highlight, Anm. d. Pic-Knipsers), das merkt man ihnen an und auch bei mir kommt in der zweiten Hälfte bei den drei gespielten MGoS Highlights (´No Place For Flowers´, ´Moonshine On Heights´ und ´The Prisoner’s Victory´) zumindest mal ein Anflug von Begeisterung auf, wenngleich mir die noch stärker quietschenden Gitarren eines Lele Hofmann (war nach MGoS ausgestiegen) schon fehlen.

BIG ELF hatten leider kurzfristig krankheitsbedingt abgesagt. Als Ersatz spielt BRIAN CUMMINS eine PETER GABRIEL Covershow. Nun denn, wir sind uns einig, dass das heute die einzige Gelegenheit ist, mal wieder die Köstlichkeiten aus den Kofferräumen dieser Welt anzutesten. Wenn man angesichts des gebotenen Anblicks von Franzosen gefragt wird, ob man auch aus Frankreich sei, hat man sichera nicht alles falsch gemacht und das, obwohl nicht mal ein Schleifchenkörbchen im Einsatz ist.

ANATHEMA rocken danach das Amphitheater trotz etwas zwiespältigem Outfit (Vincent Cavanagh in weißer Hose und Lee Douglas in langem Rock und Stiefeletten) ordentlich, weshalb vereinzelt mal die Nackenmuskulatur in Anspruch genommen werden kann. Die erste Hälfte macht schon noch richtig Laune und erreicht den vorläufigen Höhepunkt im atmosphärischen ´The Storm Before The Calm´ von ´Weather Systems´.

Mit fortlaufender Zeit macht sich aber doch etwas die fehlende Abwechslung bemerkbar, da man sich zu sehr auf die letzten drei Alben konzentriert, was aber auch nicht anders zu erwarten war. Erst als Rausschmeißer artet das Ganze mit dem unkaputtbaren ´Fragile Dreams´ nochmals in überschäumender Begeisterung aus. Hits sind halt doch am Schönsten!

Nach 2010 haben MARILLION zum zweiten Mal die Gelegenheit im Rahmen des NoTP ihr Lebenswerk an für sie historischer Stätte zu zelebrieren und immerhin hat man auch letztlich vier Fish-Songs im Gepäck. Das ist aber in Wahrheit nicht entscheidend, denn die Band hat in all ihren Phasen tolle Songs geschrieben und in über 30 Jahren nur um die Jahrtausendwende zwischen ´Radiation´ und ´Anoraknophobia´ eine kleine Schwächephase eingelegt. Politisch brandaktuell starten MARILLION mit dem Longtrack ´Gaza´ von ihrem noch neuen großartigen 2012er Werk ´Sound’s That Can’t Be Made´. Danach verkündet Hogarth geschickt Germany 1 – Argentina 0 und leitet den Ball zu Rothery über, der mit den markanten Tönen den Mega-Hit ´Easter´ einleitet. In der Folge konzentrieren sich MARILLION im Gegensatz zu 2010 etwas zu sehr auf ihre eingängigeren Songs, was vor diesem Publikum nicht unbedingt notwendig ist. Ich vermisse beispielsweise eine Einlage von ´Brave´ oder das grandiose ´Montreal´ vom letzten Album. Egal, es ist toll, die Band mal wieder zu sehen. Hogarth spult zugunsten der Show Kilometer um Kilometer auf der Bühne und später sogar im Publikum ab, kann aber sein Gesangsniveau vielleicht als Folge nicht bis zum Ende durchhalten. Die größten Begeisterungsstürme ruft natürlich ohne Frage trotzdem das ´Misplaced Childhood´-Triple ´Kayleigh´, ´Lavender´ und ´Heart Of Lothian´ zum Ende des regulären Sets hervor. Als Zugabe dürfen wir noch ´Neverland´ von der ´Marbles´-CD Nr. 2 lauschen, bevor endgültig die Lichter ausgehen. Ein kleines (Begeisterungs?)-Feuerchen am Zeltplatz bleibt zum Glück ohne gravierende Folgen.

Fazit

Toll war’s! Ein so durchgehend hohes Niveau ist halt in den allermeisten Fällen doch nur auf einem reinem Prog-Festival möglich. Die Medaillenränge vergebe ich (sicherlich nicht mehrheitskonsistent) an IQ, COLLAGE und DREAM THE ELECTRIC SLEEP aber einige andere Bands agierten auf gleichsam hohem Niveau, die Headliner natürlich eingeschlossen. Im nächsten Jahr wird zum Jubiläum wie auch beim Bang Your Head ein zusätzlicher Tag drangehängt. Das wird anstrengend, Leute. Wir müssen wieder jünger werden.

Mahlzeit!