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ANATHEMA – Distant Satellites

~ 2014 (Kscope) – Stil: Artrock ~


Vor 24 Jahren als schuppiges Death-Doom-Ungetüm aufgebrochen, über Gothic-Metal-Glättungen zum international anerkannten Progressive-Rock-Act gehäutet – ANATHEMA aus Liverpool kann in Sachen Integrität keiner was vormachen. Wo den Landsmännern von PARADISE LOST auf halber Strecke Mut und Inspiration flöten gegangen sind, treiben die drei Cavanagh-Brüder ihre musikalische Vision weiter und weiter. Ohne Rücksicht auf Traditionen und Szene-Empfindlichkeiten, nur dem eigenen Anspruch verpflichtet, gipfelnd im genialen ‚Weather Systems‘ von 2012, einem der besten Alben der jüngeren Rockgeschichte.

Kein Wunder, dass ‚Distant Satellites‘, der kürzlich erschienene Nachfolger, die Kritiker und Fans anfangs ziemlich polarisiert hat. Von Stagnation war zu lesen, von durchkalkuliertem Pseudo-Tiefgang. Sollten ANATHEMA mit ihrem zehnten Langspieler tatsächlich in die Kreativkrise geschlittert sein?

Nach wochenlangem Intensivhören wage ich es hiermit, Entwarnung zu geben. Auch wenn die makellose Klasse des Vorgängers nicht über die ganze Strecke erreicht wird, ist den Briten mit ‚Distant Satellites‘ eine Weiterentwicklung gelungen. Die erste Albumhälfte spinnt den Faden von ‚Untouchable‘ weiter, ein Crescendo jagt das nächste, die verschobenen Rhythmen erinnern bisweilen an RADIOHEAD oder alte COLDPLAY. Man kann das eintönig und verschnarcht finden, man kann sich aber auch an den wunderbaren Melodien erfreuen, an der pianolastigeren Instrumentierung und am Zweitgesang von Lee Douglas, die nun wesentlich mehr Raum hat, ihre wunderbare Stimme zu entfalten.

Die Progression haben sich ANATHEMA für die zweite Albumhälfte aufgehoben. Der selbstbenannte 6:40-Minüter schließt mit mächtigen Melodiebögen und Rückblenden die bisherige Bandgeschichte ab – und durchbricht die Erdatmosphäre.

Schwerelosigkeit, Kälte, unwirkliche Schönheit…

ANATHEMA wählen für den Aufbruch in neue Welten computergestütze Drums, schweben im traumhaften Titelsong neben Künstlern wie ARCHIVE oder STEVEN WILSON und erschaffen damit einen Soundtrack für künftige Science-Fiction-Großtaten. Das abschließende ‚Take Shelter‘ ist pures Seelenbalsam für uns entfremdete Satelliten-Menschlein:

„Lost myself in you
Found myself in truth
Brooding clouds not far away
Dark the storm that’s coming…“

Bereit für das Verlassen der Umlaufbahn? Mit ANATHEMA als Reiseführer gerne.

(8,5 Punkte)